# taz.de -- Gehörloser Politiker über seinen Hungerstreik: „Ich muss nicht bemitleidet werden“

> Um Inklusion zu ermöglichen, müssen Barrieren abgebaut werden. Derzeit
> bezahlen gehörlose Menschen ihre Dolmetscher:innen aber selbst,
> kritisiert Steffen Helbing.
Steffen Helbing ist Politiker der CDU und setzt sich als Gehörloser und
Rollstuhlfahrer für die Belange von Behinderten ein. Seit elf Tagen sitzt
er mit blauer Mütze und bunter Decke auf dem Schoß vor dem
Bundeskanzler:innenamt im Hungerstreik. 

taz: Herr Helbing, Sie sind seit eineinhalb Wochen im Hungerstreik. Wie
fühlen Sie sich? 

Steffen Helbing: Eine Zeit lang war es nicht so schlimm, doch mittlerweile
bin ich ziemlich schwach und mein Kopf ist vernebelt. Ich merke jetzt, dass
ich schneller friere und mir schwindelig wird. Ich muss mich anstrengen, um
mich zu konzentrieren. Aber meine Frau ist dabei, sie schaut nach mir und
macht mir Tee. Trotzdem ist es hart. Es ist schlimmer, als ich es mir
vorgestellt habe.

Wie lange wollen Sie denn noch im Hungerstreik bleiben? 

Vier Wochen. Ich würde natürlich früher aufhören, wenn die Politiker mit
mir das Gespräch suchen. Wenn ich sehe, dass sie mir Aufmerksamkeit widmen
und meine Belange ernst nehmen.

Mit wem wollen Sie sprechen? 

Ich möchte gerne mit Olaf Scholz sprechen. Außerdem mit den
Verantwortlichen der Ampelkoalition, weil sie derzeit das Programm für die
Zukunft verhandeln. Mein Ziel ist es, von Anfang an in der neuen Regierung
meine Belange in den Gesetzen zu verankern.

Um welche konkreten Belange handelt es sich hier? 

Ich möchte, dass uns politische Teilhabe ermöglicht wird. Und das geht nur,
wenn wir bundesweit einheitlich [1][Gehörlosengeld] bekommen. Aktuell
handhaben es die Bundesländer selbst, und nur fünf Bundesländer gewähren
dies überhaupt. Dabei sind Dolmetscherkosten sehr hoch. Mit einem
einheitlichen Gehörlosengeld könnten wir die Dolmetscher bezahlen und mehr
am demokratischen und sozialen Leben teilnehmen.

Wie handhaben es denn gehörlose Menschen aktuell? 

Ich zum Beispiel bin seit 16 Jahren ehrenamtlich politisch aktiv und habe
meine Dolmetscher immer aus eigener Tasche bezahlt. Das ist teuer! Und es
widerspricht auch politischen Wertevorstellungen. Wenn eine Minderheit
repräsentiert und am politischen Prozess teilnehmen können soll, sollte man
auch diese Barrieren aufheben. Dasselbe trifft auch auf die Kultur zu. Wenn
zum Beispiel ein gehörloser Mensch nicht nur Konsument sein, sondern die
Kunst selbst kreativ mitgestalten möchte, geht das in der Regel gar nicht,
denn für Gehörlose ist Kultur praktisch nicht vorgesehen. Die Dolmetscher
müssen wir selbst mitbringen und selbst bezahlen. Wir haben eine riesige
Gruppe von gehörlosen Menschen mit Wahnsinns-Potenzial, aber sie können
nicht mitmachen, weil ihnen die finanziellen Mittel fehlen.

Also wäre das Problem mit der Begleitung von Dolmetscher:innen gelöst? 

Nein, wir brauchen keine Begleiter, und Dolmetscher sind auch keine
Begleiter, sondern eine Dienstleistung. Wir wollen selbstbestimmt und ohne
bürokratischen Aufwand diese Dienstleistung in Anspruch nehmen können, und
dabei selbst entscheiden, wofür und wann wir es brauchen.

Wie viel kosten denn Dolmetscher:innen? 

Für eine Stunde zahlen wir 85 Euro, dazu kommen noch die Fahrtkosten, die
genauso hoch sind. Für meine ehrenamtliche politische Tätigkeit bezahle ich
im Monat 2.000 Euro allein fürs Dolmetschen. Menschen, die sich das nicht
leisten können, haben also keine Möglichkeit, sich politisch einzubringen.

Wie reagieren Ihre Politikerkolleg:innen auf Ihre Forderungen? 

Ich habe mit vielen darüber gesprochen, aber die meisten nehmen die
Probleme nur oberflächlich wahr. Viele denken dann, Inklusion, ist doch
klar, haben wir doch schon. Gleichzeitig wollen sie nicht mehr darüber
wissen, denn so eine Ignoranz schützt einen ja auch. Für eine Grundlage der
Empathie reicht es also nicht, und das ist eine riesige Enttäuschung.
Inklusion sollte wechselseitig sein, momentan gehe aber nur ich auf die
Leute zu.

Hat sich seit Beginn Ihres Hungerstreiks schon jemand aus der Politik bei
Ihnen gemeldet? 

Nicht öffentlich. Ich bekomme aber privat Nachrichten, dass ich bitte
aufhören soll. Einer schrieb mir sogar, dass es das Sahnehäubchen sei, wenn
ich mit dem Rettungswagen abgeholt werde. Gleichzeitig zeigt es mir aber,
dass eine gewisse Aufmerksamkeit dann doch da ist. Dabei handelt es sich ja
nicht nur um meine Geschichte, sondern um die Belange aller gehörlosen
Menschen in Deutschland. Darunter gibt es auch Professoren und Menschen mit
einem Doktortitel, und ich bin stolz, dass wir diese Menschen als Vorbilder
haben. Ich möchte, dass sich die junge Generation nicht mehr Sprüche
anhören muss wie „du armer Gehörloser“, denn wir müssen nicht bemitleidet
werden. Solange wir die Gebärdensprache haben, können wir kommunizieren und
jeden Beruf ergreifen. Das kann aber nur ermöglicht werden, wenn sich die
Gebärdensprache wie selbstverständlich in der Gesellschaft entfaltet hat
und zum Teil des gesellschaftlichen Lebens wird.

Wieso wählen Sie dann aber die Methode Hungerstreik, wenn doch die Fridays
for Future-Aktivist:innen bereits vor einem Monat in den Hungerstreik
getreten waren und dabei von der Politik komplett ignoriert wurden? 

Das ist reiner Zufall. Mein Streik hat mit dem Hungerstreik von FFF nichts
zu tun, ich hatte schon vor zwei Jahren vorgehabt, ihn durchzuführen.
Damals wurde ich aber von außen umgestimmt.

Was wollen Sie als erstes essen, sobald Sie den Streik beendet haben? 

Eine Mohrrübensuppe wäre schön.

30 Oct 2021

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## AUTOREN
Shoko Bethke
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