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Zum ersten Mal hört Raymond Carney von der Dorvay, die sich vom
französischen dormir, schlafen, und veiller, wach sein, ableitet, in einem
Finanzbuchhaltungskurs. Dort erzählt der Professor, ein Einwanderer aus
Osteuropa, wie sein Vater sich täglich zur immer gleichen Zeit über die
Bücher gebeugt habe – und zwar um Mitternacht.
Bis zur Erfindung der Glühbirne nämlich habe die Menschheit grundsätzlich
in zwei Schichten geschlafen und die nächtliche Wachzeit genutzt, um zu
„lesen, beten, lieben, dringende Arbeiten (zu) erledigen oder überfällige
Muße (zu) genießen“. Der New Yorker Möbelhändler erkennt in der Dorvay den
„Ganovenhimmel, wenn die ehrliche Welt schlief und die korrupte sich an die
Arbeit machte“. Zeit, seine eigenen nicht ganz legalen Rachepläne zu
schmieden.
Colson Whiteheads neunter Roman „Harlem Shuffle“ spielt zwischen 1958 und
1964 – dem Jahr, in dem nach der Ermordung des Schwarzen Teenagers James
Powell durch einen weißen Polizisten die Straßenschlachten in Uptown
Manhattan zur nationalen Protestwelle anschwollen.
Doch nach Whiteheads bisher größtem Erfolg von 2017, als er mit dem
inzwischen auch grandios verfilmten [1][Sklavenroman „Underground
Railroad“] sowohl den [2][National Book Award als auch den Pulitzer Price]
gewann, bilden Segregation, Rassismus und die Bürgerrechtsbewegung hier
eher die Hintergrundmusik für die nach einem auf Triolen basierenden
Jazz-Rhythmus benannte Stadtteil-Hommage.
Deren Protagonist Raymond Carney lebt selbst mit je einem Bein in
verschiedenen Welten. In der einen ist er als rechtschaffener Familienvater
mit Elizabeth verheiratet, Tochter aus gutem Schwarzen Anwaltshaus, deren
Eltern den Schwiegersohn mit kaum verhohlener Verachtung beäugen. In der
anderen ist er der in ärmlichen, unsicheren Verhältnissen aufgewachsene
Sohn seines berühmt-berüchtigten Vaters Big Mike, in dessen Fußstapfen der
seriös ausgebildete Carney auf keinen Fall treten will – und doch immer
wieder tritt.
## Verschliffener Rhythmus
Schuld daran ist vor allem Cousin Freddie, der sich gleich im ersten
Romandrittel am Überfall auf das Theresa Hotel beteiligt – und seinen
Cousin ungefragt als Hehler ins Spiel bringt. Trotz minutiös aus
Ganovenperspektive geschildertem Überfall gewährt dieses erste Kapitel
keinen leichten Start in die Erzählung: Es braucht Zeit, in meinem Fall
sogar das halbe Buch, um in Whiteheads dichtem Storytelling Fuß zu fassen.
Zwar erzählt er meist aus Carneys Perspektive, jedoch nicht simpel linear;
es gibt Rückblenden, Reflexionen und Anekdoten, häufiger aber noch
kleinteilige Schnittwechsel vor und hinter einem Ereignis –
Rhythmusverschleifungen, könnte man sagen.
Hinzu kommt, dass Carney als Möbelhändler mit einem wachsenden Business in
Harlems zentraler 125th Street stets auch ein Auge auf Sitzecken, Sofas und
Einbauküchen, auf Stoffe, Trends und Marken seiner Zeit wirft, die er mit
echter Berufshingabe noch in der bizarrsten Location zärtlich taxiert – und
damit nicht selten die Spannungskurve überdehnt.
## Kriminalität als Beruf
Whitehead beleuchtet das Panorama von oben, von unten und in der ganzen
Breite der Farbpalette, wozu er in unregelmäßigen Abständen auch zu
Nebenfiguren wechselt. Etwa zu Pepper, der schon als Kumpan von Carneys
Vater mit jenem zusammenarbeitete und dessen furztrockene Repliken zu den
komischen Highlights zählen: „Wie war Raymond denn so?“, fragt ihn einmal
Elizabeth. „Als er klein war?“ „So ziemlich wie heute. Bloß kleiner.“ Und
Pepper verkörpert vielleicht am besten, was der Roman ebenfalls erzählt:
Auch Krimineller ist ein Beruf.
Die kleinen Hehlerdienste, der Kontakt zu jüdischen Juwelieren in Midtown,
der korrupte Streifenpolizist, der allmonatlich im Revier seine Umschläge
einsammelt – sie sind der Preis dafür, dass Carney sich nach und nach seine
Träume erfüllen kann: Umzug in eine bessere Gegend von Harlem, eine größere
Wohnung. Amerikanische Familienfotos mit der eigenen Polaroidkamera. Ein
stabiler Tresor im Geschäft.
Doch wirklich Fahrt nimmt die Geschichte erst durch die Kränkung auf, die
Carney im Dumas Club erfährt, wo der Schwarze Bankier Wilfried Duke zwar
sein Geld einsammelt, ihn aber dennoch nicht ins erlauchte Netzwerk
aufnehmen will. Das komplexe Rachekomplott, das Carney während der Dorvay
einfädelt und mithilfe einer Prostituierten ins theatrale Werk setzt,
bleibt auch tatsächlich nicht ohne durchschlagende Wirkung.
## Die Oberschicht kommt ins Spiel
Während Carney die Kategorien von anständig und böse, kriminell und ehrlich
jederzeit auseinanderhalten kann, während er virtuos zwischen ihnen hin und
her tänzelt, wird im dritten Teil diese Trennschärfe ernstlich bedroht –
und zwar von der weißen New Yorker Oberschicht, die nun ins Spiel kommt.
Wieder ist es Cousin Freddie, der Carney in Schwierigkeiten bringt, aber
diesmal ist die Sache mehr als heiß: „Jetzt hatten Freddie und Linus Ärger
von ganz anderer Größenordnung entfesselt, hatten reichen Leuten ans Bein
gepisst, die genauso kriminell waren wie Gangster, sich aber nicht
verstecken mussten. Sie taten es in aller Offenheit, ließen ihre Untaten
notariell beglaubigen oder in Messingplatten für Gebäudefassaden
eingravieren.“
Doch unter Leuten wie Carney und Freddie sind das eher sachliche
Feststellungen als hochtrabende Einsichten und keine Jammertiraden wert.
Überhaupt ist Whitehead groß darin, Pathos geschickt zu unterlaufen. Sein
Buch endet an der Baustelle des World Trade Centers, von dem Carney
unmöglich ahnen kann, dass es einmal zum Schicksalsplatz der USA werden
wird.
1 Sep 2021
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