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taz am wochenende: Herr Stöbe, nach der Festnahme der „Sea-Watch
3“-Kapitänin Carola Rackete vergangenes Wochenende wurde sehr viel [1][für
Sea-Watch gespendet]. Es reicht, um das beschlagnahmte Schiff zu ersetzen.
Aber das kann auf Dauer nicht die Lösung sein, oder?
Tankred Stöbe: Nein, das politische Versagen Europas muss aufhören. Die
Zustände für Flüchtende in Libyen sind katastrophal, den Menschen muss
geholfen werden, statt die zivilen Helfer zu kriminalisieren.
Ärzte ohne Grenzen hat zusammen mit der Hilfsorganisation SOS Méditerranée
bis Ende vergangenen Jahres mit dem Schiff „Aquarius“ selbst Seenotrettung
betrieben. Warum wurde das beendet?
Anfangs hatten wir drei Rettungsschiffe im Mittelmeer, im vergangenen Jahr
wurde zweimal auf massiven Druck Italiens hin die Flagge des letzten
Schiffes entzogen, ihm also die Betriebserlaubnis weggenommen. Statt das
Sterben im Mittelmeer mit staatlichen Hilfsprogrammen zu beenden, wie es
eigentlich sein müsste, unterbindet die europäische Politik also die zivile
Seenotrettung – das ist zynisch.
Ist Seenotrettung von zivilen Helfern politischer Aktivismus oder
humanitäre Hilfe? Kann man das überhaupt trennen?
Für uns als Ärzte ohne Grenzen waren die unzähligen ertrinkenden
Flüchtlinge vor Libyen 2015 unerträglich geworden. Wir konnten und wollten
nicht mehr mit ansehen, dass das Mittelmeer zum Massengrab vor den Küsten
Europas wird. Und weil die Politik versagte, wurden wir aktiv. Wir haben in
vier Wochen auf der „Dignity 1“ über 1.400 Menschenleben gerettet. Und
keine Geschichte der Überlebenden war einfach, sie alle haben schlimmste
Menschenrechtsverstöße, Folter, Hunger und Leid erlebt. Für uns ist
Seenotrettung ebenso humanitäre Hilfe wie die Hilfe in den Herkunftsländern
– wir wissen, warum diese Menschen fliehen.
Wie politisch dürfen Hilforganisationen sein? Wie politisch sind Ärzte ohne
Grenzen?
Als humanitäre Organisation folgen wir dem Prinzip, human, neutral,
unparteilich und unpolitisch zu helfen. Gleichzeitig war es ein
Gründungsimpuls unserer Organisation, den Menschen, denen wir helfen, als
Sprachrohr zu dienen. Wir benennen die Probleme, aber nicht die Schuldigen
oder Lösungswege aus einer Krise; das muss die Politik richten.
Aus Protest gegen die europäische Flüchtlingspolitik nehmen Ärzte ohne
Grenzen seit 2016 aber kein Geld mehr von der EU. Sie haben seither auf
über 50 Millionen Euro verzichtet, um politischen Druck aufzubauen. Hatte
das eine Wirkung?
Es ging dabei um das EU-Budget für humanitäre Hilfe. Wir haben gesehen, wie
die Situation in der Türkei und in Griechenland ist – und dass mit Geldern
aus diesem Topf die Abschottung bezahlt wurde.
Genau genommen hat die EU seitdem in der Türkei mehr für humanitäre Hilfe
ausgegeben als im Rest der Welt zusammengenommen.
Für uns war da der Moment, zu sagen: Wenn das die EU-Definition von
humanitäre Hilfe ist, dann können wir nichts davon nehmen. Das war
natürlich ein moralisches Dilemma, weil wir mit dem Geld viele Projekte
hätten finanzieren können. Es gab viele interne Diskussionen, aber wir
haben entschieden, dass das das Einzige war, was wir tun können, um unser
Unverständnis und unsere Empörung auszudrücken. Wir waren erstaunt über das
enorme Medienecho auf unseren Schritt.
Die Türkei liegt direkt vor der Tür Europas. Welchen Einfluss hat Europa
auf die Krisen in der Welt?
Wir sehen eine Renaissance von Stellvertreterkriegen. Syrien, Libyen oder
Jemen, das sind ja nicht einfach innerstaatliche Konflikte, wo sich
irgendwelche Rebellengruppen nicht einigen können. Das sind international
unterstützte Kriege, und es wird sehr wenig getan, um diese Konflikte zu
befrieden. Wenn diese menschengemachten Konflikte nicht adressiert werden,
dann werden sie mit jedem weiteren Monat komplexer und irgendwann
tatsächlich kaum noch lösbar. Ein Problem, das viel mit Europa zu tun hat,
ist dabei der neu aufflammende Nationalismus. Der priorisiert nationale
Interessen gegenüber den globalen Bemühungen, Konflikte einzudämmen.
Fast alle Berichte von Hilfsorganisationen kommen heute mit Rekorden daher.
Gibt es mehr Leid in der Welt als früher?
Eine schwierige Frage, da gibt es unterschiedliche Wahrnehmungen. Zum einen
können wir Leid heute sehr viel besser erfassen als früher. Und viele
einstige Konfliktregionen sind heute keine mehr, etwa Teile Westafrikas
oder Südostasien, wo jahrzehntelang Bürgerkriege herrschten. Was im Moment
für uns möglicherweise den Eindruck verstärkt, dass die Not größer wird,
ist aber, dass sie näher an Europa herankommt durch die Konflikte in den
arabischen Staaten und die Lage auf dem Mittelmeer. Die Konflikte sind für
uns nicht mehr ganz so weit weg wie vor Jahren noch.
Im Juni wurde die neue Liste der „vernachlässigten Konflikte“ vorgestellt.
Dort fehlt es an Aufmerksamkeit und Hilfe, entsprechend leiden die Menschen
dort umso mehr. Verteilen die Medien ihre Aufmerksamkeit ungerecht – oder
gibt es heute immer mehr Konflikte, sodass gar nicht auf alle geschaut
werden kann?
„Vergessene Konflikte“ erlebe ich, seitdem ich vor 20 Jahren mit
humanitärer Hilfe angefangen habe. Viele große Krisen stehen nicht im Fokus
der Öffentlichkeit – sei es Kongo, Südsudan, die Zentralafrikanische
Republik oder Tschad. Das sind Konflikte, die es seit Jahrzehnten gibt, und
es wird eigentlich gar nicht darüber berichtet. Umgekehrt gibt es viel
Aufmerksamkeit für Naturkatastrophen. Da sehen wir auch immer eine
entsprechend große Spendenbereitschaft. Je stärker eine Krise
menschengemacht ist, je chronischer sie ist und je weniger strategische
Bedeutung sie global hat, desto eher fällt sie aus der medialen
Berichterstattung heraus.
Hat der Eindruck, dass das Leid zunimmt, womöglich auch damit zu tun, dass
es heute klare Standards dafür gibt, was Menschen in Notsituationen an
Versorgung zusteht, dass diese Ansprüche dann aber nicht erfüllt werden?
In der Tat gibt es heute solche Standards. Wir wissen, wie viele Kalorien
der Mensch täglich zu sich nehmen sollte, wie viel Wasser und wie viel Raum
er zum Leben bräuchte und wie viele Toiletten für wie viele Flüchtlinge
aufgestellt werden müssten. Wir können meist messen, wie groß Konflikte
sind, wie viele Menschen dort krank werden und sterben. Einerseits.
Andererseits ist das Wissen oft trotzdem schockierend ungenau. In Syrien
etwa wurde bei einer halben Million Getöteter aufgehört zu zählen – die
Statistik ließ sich nicht verlässlich weiterführen. Im Mittelmeer war die
Dunkelziffer der Toten lange sehr hoch. Dann begannen die NGOs und die
Internationale Organisation für Migration zu zählen, die Dunkelziffer
schrumpfte. Heute aber sind kaum noch NGOs vor Ort. Entsprechend größer
wird die Kluft zwischen dem, was wir wissen könnten, und dem, was wir
wissen.
In vielen „vernachlässigten Konflikten“ sind Ärzte ohne Grenzen vor Ort.
Ist es schwierig, Freiwillige für Einsätze zu finden, von denen nie etwas
in der Zeitung steht?
Nein. Bei Naturkatastrophen bekommen wir oft Nachfragen, ob es nicht
kurzfristig Bedarf gibt. Allerdings engagieren sich da meist auch andere
Organisationen. Bei den normalen Programmen gehen Freiwillige bereitwillig
auch in Länder wie Südsudsan oder Kongo. Schwieriger ist es für uns in
Konfliktgebieten, in denen die Sicherheitslage katastrophal ist, wo etwa
auch Krankenhäuser bombardiert werden. Das macht über die Hälfte unsere
Einsätze aus.
Wie entscheiden Sie, ob Sie trotzdem Freiwillige dorthin schicken?
Wir sehen, dass die medizinische Not dort meist besonders zunimmt, während
die medizinische Hilfe abnimmt. Wir haben in Konfliktgebieten eine gewisse
Expertise entwickelt, aber natürlich ist es schwierig, in den
gefährlichsten Gebieten der Welt zu arbeiten und dann zu sagen: „Die
Sicherheit unserer Mitarbeiter hat oberste Priorität.“ Das ist ein
Spannungsverhältnis, das sich nie ganz auflösen lässt.
Und wie kriegen Sie es teils gelöst?
Wir sprechen von „verhandelter Sicherheit“. Wir versuchen, mit allen
Konfliktparteien zu sprechen, unsere Neutralität zu erklären. Und wir
hoffen, dass die anerkennen, dass jeder zu uns ins Krankenhaus kommen kann
und dadurch eine Akzeptanz entsteht. Das gelingt mal gut, mal weniger gut.
Was, wenn es weniger gut gelingt?
In Syrien etwa konnten wir nicht in die Gebiete, die der IS
kontrollierte. Die Gefahr, dass MitarbeiterInnen entführt oder getötet
werden, war zu groß. Wir mussten dann tun, was wir sehr ungern tun:
feststellen, dass ein ganzes Territorium für uns nicht zu betreten ist.
Bei Ihren Projekten lehnen Sie grundsätzlich bewaffneten Schutz ab?
Ja. Die einzige Ausnahme ist Somalia. Ansonsten ist das für uns immer ein
Marker: Schaffen wir es, auszuhandeln, dass die Krankenhäuser waffenfreie
Zonen sind? Wenn nicht, können wir dort nicht arbeiten. Oft sind dafür
lange Auseinandersetzungen nötig. Was für uns in Europa völlig klar ist,
ist in Kriegsgebieten völlig unnormal. In Libyen etwa sind alle mit Waffen
im Krankenhaus herumgelaufen, es wurden Menschen im Krankenhaus erschossen.
In Bengasi habe ich wochenlang mit dem Sicherheitschef darüber verhandelt,
das Krankenhaus waffenfrei zu bekommen.
Schranken beim Helfen setzen das Gebot der Sicherheit wie auch das Geld:
Nimmt man 50 Millionen Euro für die Behandlung von 12 Millionen
Malariapatienten oder für 1.000 Minenopfer? Wie entscheiden Sie solche
Fragen?
Malaria- oder Cholerabehandlungen sind relativ preiswert. Da lassen sich
mit wenigen Euro Menschenleben retten. Würden wir nur nach der Effizienz
schauen, würden wir nur solche Basisversorgung in sehr strukturarmen
Ländern anbieten. Kriegschirurgie und die Bereitschaft, in unsicheren
Gebieten zu arbeiten, ist viel aufwendiger, als Malariaimpfungen unter
einem Baum zu geben. In Gaza etwa mussten wir viele Männer versorgen, die
bei den Freitagsdemos an der Grenze waren. Die hatten Schussverletzungen an
den Unterschenkeln, die Wunden waren offen und verschmutzt, teils chronisch
infiziert. Diese Art von Hilfe – rekonstruktive Chirurgie, Amputationen,
Krankengymnastik – das sind sehr aufwendige und teure Programme.
Wie viele Leben Sie für einen Euro retten können, ist also nicht das
einzige Kriterium …
Nein, so einfach ist es nicht.
Was sind die anderen?
Zum Beispiel, ob wir Modellprojekte durchführen können, die nachhaltig
wirken. Wir sehen in Schwellenländern zunehmend Krankheiten, die wir hier
auch kennen – Bluthochdruck, Atemwegserkrankungen, Diabetes. Diese
Krankheiten sind chronisch und nur aufwendig zu behandeln. Ich war etwa in
Tschetschenien, wo 80 Prozent der Männer an Herzinfarkt gestorben sind. Es
gab aber gar kein Bewusstsein dafür, dass es Herzinfarkte gibt.
Was haben die Leute denn für die Todesursache gehalten?
Eine akute Bronchitis! Wir haben mit Ärzten vor Ort eine Herzstation
aufgebaut.
Wäre das nicht eine staatliche Aufgabe?
In Tschetschenien waren nach dem Bürgerkrieg die unbehandelten Herzinfarkte
das Hauptproblem. Aber grundsätzlich ist es natürlich so, dass wir
politisches Versagen nicht kompensieren können. Mit unserem Jahresbudget
könnten wir in zwei oder drei mittelgroßen Staaten ein komplettes
Gesundheitssystem betreiben und gute Medizin etablieren. Aber wir wollen
diese staatliche Aufgabe nicht ersetzen.
Sondern?
Wir fragen uns: In welchen Krisen ist das staatliche Versagen so groß, dass
am meisten Menschen leiden oder sterben. Ein Kriterium ist: wenn in einer
Region mehr als einer von Zehntausend Menschen pro Tag stirbt. Das ist eine
Alarmgrenze. Dann erwägen wir einen Einsatz und versuchen auch, zu messen,
ob wir es schaffen, die Sterberate zu senken.
Können Sie mit doppelt so viel Geld doppelt so viel helfen?
Nein. Es ist komplexer. Nehmen wir die Ebolakrise in Westafrika. Wir hatten
bei Ausbruch der Krise 40 Ebolaexperten bei Ärzte ohne Grenzen und diese
sofort entsandt. Aber es gibt ja keine freien Tage, nach vier Wochen
mussten wir sie zurückholen, damit sie sich ausruhen konnten. So waren
diese 40 Mitarbeiter sehr schnell nicht mehr verfügbar. Wir haben damals so
viele Menschen trainiert wie noch nie in unserer Organisationsgeschichte.
Die Bundesregierung wollte, dass wir mehr tun, sie wollte uns mehr Geld
geben. Aber Geld heilt nicht Ebola. Mehr Experten, Ärzte und Pflegende
wurden benötigt, die bereit und fähig waren, in Westafrika zu arbeiten.
Dass es diese Experten nicht gibt, hat doch aber mit der öffentlichen
Finanzierung zu tun. Um bei Ebola zu bleiben – vor allem über die
Weltgesundheitsorganisation (WHO) klagen viele, sie sei von den Staaten
kaputtgespart worden und nun von privaten Stiftern wie Bill Gates abhängig.
Die Ebolaexperten hätten doch von dort kommen müssen, nicht von Ärzte ohne
Grenzen.
Ja, und es wurde immer versprochen, dass es wieder mehr Mittel für die WHO
gibt und dass es besser wird, etwa nach dem Erdbeben in Haiti. [2][Dann kam
Ebola, und es wurde nicht besser]. Zuletzt wurde das Budget erhöht, aber
der Beleg dafür, dass die WHO nun besser reagieren kann, der steht noch
aus.
Kann man sagen: Mehr Entwicklungshilfe, weniger vermeidbare Todesopfer?
Die Entwicklungszusammenarbeit müsste noch effektiver werden, etwa durch
Projekte, die stärker der Gesundheit dienen, die die Lebensbedingungen
verbessern. Stattdessen richten sich viele Bemühungen Deutschlands und der
EU derzeit darauf, Menschen an der Flucht zu hindern. Wir sehen eine immer
stärkere Abschottung der wohlhabenden Länder, die sagen: „Wir spenden Geld,
aber wir wollen nicht direkt involviert werden, wir wollen die Menschen
nicht bei uns aufnehmen, wenn sie aus Not und Krieg fliehen.“
Die Bundesregierung sagt, sie helfe beim Flüchtlingsschutz vor Ort.
Die Menschen kommen ja heute oft gar nicht mehr aus den Krisengebieten
heraus, wenn wir an Gaza, Jemen oder Libyen denken. In der
Menschheitsgeschichte war es fast immer möglich, aus Krisenregionen zu
fliehen, das ist ein verbrieftes Menschenrecht. Aber de facto kommen die
Menschen heute nicht mehr weg. Wir sehen kaum Flüchtlinge aus dem Jemen.
Libyen wird abgeriegelt, das Mittelmeer ist praktisch nicht überwindbar.
Und so, wie die Flüchtlinge nicht herauskommen, kommen auch keine
Berichterstatter in die abgeriegelten Konflikte. Wir erfahren immer weniger
von dem, was dort passiert. Das ist fast schizophren im
Informationszeitalter, wo es eigentlich nie leichter war, etwas über das
Leid der Menschen zu erfahren.
Ihre Ärzte gehen in die schlimmsten Konflikte. Was macht das mit ihnen?
Es passiert relativ selten, dass MitarbeiterInnen traumatisiert
zurückkommen.
Und wenn doch?
Sie können immer psychologische Hilfe in Anspruch nehmen. Auf unserem
Rettungsschiff hing die entsprechende Nummer in jeder Koje. Und nach der
Rückkehr gibt es ein Netzwerk, das die Freiwilligen nach ein paar Wochen
kontaktiert.
Was hängt den Freiwilligen am meisten nach?
Zum einen, wenn sie besonders grausames Unrecht sehen. Es gab in Westafrika
vor Jahren schwerste Folter. Menschen, die verdächtigt wurden, zur
Opposition zu gehören, wurde die Hand abgehackt, sie mussten im Busch
ausharren und kamen irgendwann mit den abgehackten Armen und schwerem
Blutmangel zu uns. Für die Mitarbeiter war das schwer zu verarbeiten. Ein
anderer Faktor, solche Erlebnisse zu verarbeiten, ist, ob ich als Helfer
die Hintergründe verstehe, was eigentlich passiert.
Inwiefern?
Im Jemen etwa gab es eine Schießerei in unserem Krankenhaus, ich musste die
Wiederbelebung eines Patienten abbrechen. Das ist eine furchtbare
Situation. Aber nachdem wir klären konnten, wie es zu der Schießerei kam,
konnte ich damit umgehen. Sobald sich das Bild aufklärt, verschwindet die
Angst. Ich habe keine dauerhaften Probleme, ich wache nachts nicht auf und
sehe furchtbare Dinge.
Sie können das zurücklassen?
Ich nehme diese Bilder mit, aber eher als Motivation. Viele Patienten
wissen, dass sie nach der Behandlung aus der Aufmerksamkeit herausfallen.
Das Einzige, was sie tun können, ist, uns zu bitten, sie nicht zu vergessen
und ihre Geschichten mitzunehmen. Gegen das Vergessen anzuarbeiten hat
etwas ganz Unmedizinisches, aber für sie etwa ganz Existenzielles.
Immer neue Patienten behandeln zu müssen, denen ein Diktator die Hand
abhacken lässt, ohne dass etwas dagegen getan wird – frustriert das manche
Helfer so, dass sie sagen: „Ich mach das hier nicht mehr“?
Das gibt es. Aber die positiven Reaktionen überwiegen. Nehmen wir noch
einmal Ebola in Westafrika 2014. Wir wissen, dass mehr als jeder zweite
Patient stirbt. Das ist eine Belastung für die Mitarbeiter, aber fast alle
KollegInnen, mit denen ich im Einsatz war, waren zuvor schon drei- oder
viermal im Ebolagebiet. Das spricht gegen die These, dass alles, was
belastend ist, dazu führt, dass die Helfer nicht wiederkommen. So erlebe
ich es für mich selber auch.
Sie kommen wieder, weil es belastend ist?
Je mehr es ein intensives menschliches Arbeiten an existenziellen Fragen
ist, desto stärker ist die Identifikation mit der Hilfe. Dann muss nicht
messbar sein, wie viele ich gerettet habe. Es kann auch eine Rolle spielen,
wie vielen schwerkranken Patienten ich ein würdiges Sterben ermöglicht
habe.
Kann diese existenzielle Erfahrung süchtig machen?
Ich weiß nicht, ob es Sucht ist. Ich arbeite in Berlin in der Notaufnahme.
Hierher kommen Schwerkranke und nicht so schwer Kranke. In der humanitären
Hilfe kommt keiner mit einem eingewachsenen Nagel. Wenn jemand es da in ein
Krankenhaus schafft, geht es um Leben oder Tod. Das Sinnhafte der Arbeit
ist so augenscheinlich, da kann es passieren, dass ich, wenn ich zurück in
das deutsche Gesundheitssystem komme, mich frage: Was mache ich hier
eigentlich? Wie viele Ärzte gibt es im Südsudan pro Einwohner und wie viele
in Berlin? Hier sieht das Gesetz vor, dass in acht Minuten jeder einen
Notarzt an der Tür hat, wenn er den Notruf wählt. In Libyen oder im Jemen
kann es Tage dauern, bis nach einem Cholerainfekt oder einer
Schussverletzung Hilfe kommt. Und hinzu kommt, ich muss mich
weiterentwickeln – in jedem Projekt komme ich in Situationen, für die es
keinen Plan gibt, mit dem ich mich hätte vorbereiten können.
Will man diese Erfahrung immer wieder?
Nein, es wollen nicht genügend: immer wieder. Wir gewinnen viele
Freiwillige für ein Projekt, aber an Erfahrenen, die eine medizinische
Koordination übernehmen können, fehlt es oft. Viele kommen nur einmal, und
das ist auch nachvollziehbar.
7 Jul 2019
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