|
Thilo Sarrazin hat ein Buch mit 465 Seiten, 538 Fußnoten, 33 Tabellen und
10 Schaubildern verfasst. Der Titel ist zwar denkbar reißerisch und lautet
"Deutschland schafft sich ab. Wie wir unser Land aufs Spiel setzen",
trotzdem ist dem Autor sehr daran gelegen, dass es ein wissenschaftliches
Werk sein soll. "Ich stütze mich in meinen Ausführungen auf empirische
Erhebungen", betont der Bundesbanker, Sozialdemokrat und einstige Berliner
Finanzsenator.
Diese "empirischen Erhebungen" erscheinen am heutigen Montag, und selten
hat ein Buch im Vorfeld derartige Diskussionen ausgelöst. Denn Sarrazin
argumentiert dezidiert biologistisch. Für ihn ist die Unterschicht nicht
sozial benachteiligt, sondern genetisch bedingt dümmer als die Oberschicht.
Es handle sich um eine "negative Auslese".
Überhaupt schreibt Sarrazin sehr gern über "Selektion". Seine
Formulierungen und "Analysen" erinnern nicht nur an die Eugenik - sie sind
Eugenik.
Nichts als Vorurteile
Sarrazin selbst glaubt, dass er ein Tabu bricht, wenn er formuliert, "dass
wir als Volk an durchschnittlicher Intelligenz verlieren, wenn die
intelligenteren Frauen weniger oder gar keine Kinder zu Welt bringen". Doch
ist dies kein Tabu - sondern wissenschaftlich unhaltbar.
Das beginnt bereits bei der Statistik. So ist Sarrazin überzeugt, "dass der
Anteil der kinderlosen Universitätsabsolventinnen die 40-Prozent-Marke
übersteigt". Sein Beleg: ein Wochenbericht des Deutschen Instituts für
Wirtschaftsforschung (DIW). Doch wer die angegebene Literatur studiert,
erlebt eine Überraschung. Denn das DIW kann bei Akademikerinnen nur eine
Kinderlosigkeit von 23 Prozent entdecken.
Noch grotesker ist Sarrazins Interpretation der Genetik. Er stellt sich die
menschliche Intelligenz wie die Farbe einer Erbse vor, die strikt nach den
Mendelschen Gesetzen vererbt wird.
Zwar hat er schon gehört, dass die Umwelt nicht zu vernachlässigen ist.
Aber ihm reicht es zu konstatieren, dass Intelligenz "zu 50 bis 80 Prozent
erblich" sei, um den Deutschen zu empfehlen, an ihrer genetischen Substanz
zu arbeiten, um die Massenverblödung zu verhindern.
Sarrazin geht nicht so weit, dass er der Unterschicht gänzlich verbieten
möchte, Kinder zu bekommen. Stattdessen will er gegensteuern, indem auch
die Akademikerinnen fruchtbarer werden. Programmatisch heißt ein Kapitel:
"Mehr Kinder von den Klugen, bevor es zu spät ist."
Dies war genau das Programm der Eugenik, die im 19. Jahrhundert von Francis
Galton erfunden wurde. Auf ihn beruft sich Sarrazin explizit - allerdings
ohne das Wort Eugenik zu verwenden. Sehr zielgenau verwendet er jedoch den
Begriff "dysgenisch", der ohne den Kontext der Eugenik gar nicht zu
verstehen ist und der 1915 erfunden wurde, um "negative Selektionsprozesse"
bei einer menschlichen Population zu beschreiben.
Dieser Rückgriff auf Theoretiker des 19. und frühen 20. Jahrhunderts zieht
sich durch das gesamte Buch. Sarrazin ignoriert konsequent sämtliche
modernen Erkenntnisse zur Intelligenz- und Genforschung. Denn dann hätte er
zur Kenntnis nehmen müssen, dass sich das Bild vom Gen stark gewandelt hat.
Wie immer deutlicher wird, gibt es keine deterministische Verbindung
zwischen den Genen und Eigenschaften wie Intelligenz. Inzwischen ist das
gesamte menschliche Genom entschlüsselt. Doch ein "Intelligenz-Gen" wurde
nicht entdeckt. Offenbar wirken zahllose Gene auf das Gehirn ein - und ob
sie überhaupt aktiviert werden und wie sie miteinander agieren, hängt sehr
wesentlich von den äußeren Anregungen ab.
Jedenfalls zeigte sich in Adoptionsstudien, dass Unterschichtenkinder
mühelos einen gymnasialreifen Intelligenzquotienten von 107 erreichen -
wenn sie von bildungsbeflissenen Mittelschichtsfamilien aufgenommen werden.
Obwohl Sarrazin die gesamte Unterschicht attackiert, sind es vor allem die
"muslimischen Migranten", von denen er sich bedroht fühlt. Sie seien
Schmarotzer, die "nicht den eigenen wirtschaftlichen Erfolg" anstreben,
sondern "die Absicherung und Alimentierung durch den Sozialstaat".
Dabei entgeht Sarrazin, wie viele Migranten sich bemühen, sich aus der
Abhängigkeit von Sozialleistungen zu befreien, indem sie eigene kleine
Betriebe gründen, die nur bei großem Arbeitseinsatz und äußerster
Selbstausbeutung überhaupt Ertrag abwerfen. Für Sarrazin sind diese
selbstständigen Existenzen jedoch keine Leistung, sondern "Ausdruck und
Ergebnis des mangelhaften Bildungsaufstiegs" der Migranten - sie sind
schlicht zu blöd für andere Jobs.
An anderer Stelle lobt der Wirtschaftsfachmann jedoch, dass die
Selbstständigenquote bei den Einheimischen immer noch höher sei als bei den
Zuwanderern - sind die angestammten Deutschen also noch blöder?
Alles wird zurechtgelegt
Auch beim Thema Bildung sortiert er sich die Fakten passend. Für Sarrazin
steht fest, dass nicht das deutsche Schulsystem, sondern nur die mangelnde
Intelligenz der muslimischen Migranten zu den schlechten Pisa-Ergebnissen
führt. Denn mit Finnland und Korea würden zwei Länder siegen, die zwar sehr
verschiedene Schulsysteme, aber kaum Einwanderung hätten.
Dazu will jedoch nicht passen, dass auch die Niederlande viele muslimische
Zuwanderer haben - und auf Platz vier bei Pisa stehen.
Auch Sarrazin, der mit einer Lehrerin verheiratet ist, sieht, dass an den
deutschen Schulen manches zu verbessern wäre. Sein Ansatz klingt gar nicht
schlecht: Schulen müssten "jeden Menschen befähigen, das ihm Gemäße - und
damit das Beste - aus sich zu machen".
Doch dann schränkt er ein: Es bringe eben nicht jeder die nötigen
Voraussetzungen mit. "Die beste Schule macht ein dummes Kind nicht klug" -
blöd bleibt blöd.
Dass die muslimischen Migranten selbst schuld sein müssen, ist für Sarrazin
schon deswegen belegt, weil Osteuropäer und Asiaten sich problemlos ins
Bildungssystem integrierten. Also müsse es ihre "Mentalität" sein, die
muslimische Migrantenkinder häufig an der Schule scheitern lasse.
Zu dieser "kulturell bedingten" Mentalität gehöre, dass muslimische Jungen
am liebsten unter sich blieben, Frauen jeden Respekt verweigerten und ihre
Lehrer gern als "Hurensöhne" titulierten.
Als Beweis zitiert Sarrazin den arabischstämmigen Berlin-Neuköllner
Sozialarbeiter Fadi Saad: "Mit Kuschelpädagogik kommt man bei diesen
abgebrühten Jungs nicht weiter", sagt Saad, selbst ehemaliges
Gang-Mitglied. Gleichzeitig berichtet dieser noch, dass es in Schulen im
Libanon üblich sei, saubere Fingernägel vorzuzeigen - und völlig undenkbar,
den Lehrer als "Hurensohn" zu begrüßen.
Offenbar gibt es doch keine Mentalität, die aus der Herkunftskultur
importiert wird - sonst wäre das Verhalten der muslimischen Jugendlichen in
Berlin und im Libanon ja nicht so unterschiedlich.
Genauso seltsam ist Sarrazins Behauptung, dass ausgerechnet unter den
Muslimen der kriminelle Nachwuchs von morgen heranwächst. Zwar weist die
Berliner Kriminalitätsstatistik bei jugendlichen Intensivtätern eine
überdurchschnittlich hohe Zahl von Nichtdeutschen aus. Doch die von
Sarrazin als so integriert gelobten Osteuropäer stehen dort an erster und
die Vietnamesen an dritter Stelle.
Auch Sarrazin muss einräumen, dass "95 Prozent" der etwa vier Millionen
Muslime in Deutschland "friedliebend" seien. Doch das beruhigt sein
Misstrauen keineswegs, denn diese "kulturell andersartige Minderheit" sei
den aktuellen Strömungen des weltweiten Islam ausgesetzt - den Sarrazin
umstandslos als islamistisch und tendenziell terroristisch beschreibt.
Er ignoriert, dass der Islam bei den hier lebenden Muslimen kaum auf
Interesse stößt: Noch nicht einmal 5 Prozent gehören einer hiesigen
islamischen Organisation oder einem der Dachverbände an - die sich überdies
längst von Terrorismus distanziert haben. Die überwältigende Mehrheit der
Muslime will sich offenbar weder für den Neubau von Moscheen noch bei der
Kopftuchfrage engagieren.
Einseitig und falsch
All das blendet Sarrazin aus. Zudem bezieht er sich sehr einseitig allein
auf Texte aus der "Multikulti ist gescheitert"-Schule. Fachleute mit
anderen Ansätzen wie etwa den Migrationsforscher Klaus Bade, die
Professorin für interkulturelle Pädagogik Yasemin Karakasoglu oder den
Islamexperten Werner Schiffauer bemüht er nicht.
Stattdessen zitiert er viel und gerne Necla Kelek, die als scharfe
Islamkritikerin bekannt und ebenso umstritten ist. Doch selbst Sarrazins
Angriffe auf Keleks Kritiker verraten noch, wes Geistes Kind er ist. Man
könne doch eine Deutschtürkin gar nicht zur Deutschnationalen stempeln, so
seine Logik. Deutsche wird für Sarrazin auch Necla Kelek nicht.
Thilo Sarrazin: "Deutschland schafft sich ab. Wie wir unser Land aufs Spiel
setzen". DVA, München 2010, 465 Seiten, 22,99 Euro
29 Aug 2010
## AUTOREN
|