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Stutthof/Itzehoe taz | Das rote Backsteingebäude steht unvermittelt in der
flachen Landschaft da, wuchtig und unübersehbar. Die Sprossenfenster
vermögen nicht dem Haus ein freundliches Aussehen zu verleihen. Auf einem
Foto aus dem Jahre 1941 sind links und rechts des Haupteingangs zwei
Hakenkreuzflaggen zu erkennen, eine weitere Fahne weht augenscheinlich am
Dachfirst. Es handelt sich um die Kommandantur des Konzentrationslagers
Stutthof. Im Inneren des Gebäudes, genauer im ersten Stockwerk, hatte der
Kommandant Paul-Werner Hoppe seinen Dienstsitz, Herr über Leben und Tod
Tausender Häftlinge.
Vor allem über deren Tod.
Paul-Werner Hoppe ist 1955, zehn Jahre nach den Ende der Massenmorde, vom
Landgericht Bochum zu einer Haftstrafe von fünf Jahren und drei Monaten
verurteilt worden. Die Strafe erging lediglich wegen Beihilfe zum Mord,
denn Hoppe, so befand das Gericht, sei lediglich ein „Irregeleiteter“ und
„Verführter“ gewesen, eine der „kleinen Figuren“. Ein Urteil, typisch für
die 1950er Jahre, als man in der Bundesrepublik von all dem nichts mehr
wissen wollte. Der Bundesgerichtshof kassierte im folgenden Jahr den
Schuldspruch. In einem zweiten Verfahren erhielt Hoppe 1957 eine
neunjährige Haftstrafe. Schon 1960 wurde er aus dem Gefängnis entlassen.
Hoppe starb 1974.
Als eine Delegation des Landgerichts Itzehoe im Herbst 2022, 67 Jahre nach
dem ersten Urteil, das Gelände des früheren Konzentrationslagers betritt,
hängen selbstverständlich keine Hakenkreuzfahnen mehr dort. Die ehemalige
Kommandantur des Lagers östlich von Danzig (Gdańsk im heutigen Polen)
beherbergt heute die Verwaltung der Gedenkstätte Stutthof. Hier ist auch
das Archiv untergebracht, mit all den Karteikarten über die Häftlinge und
ihre Bewacher von der SS. Die deutschen Juristen sind gekommen, um sich
selbst ein Bild von diesem Haus zu machen.
## Befehle zu Deportationen
Denn neben Paul-Werner Hoppe arbeitete dort von Juni 1943 bis zum April
1945 eine junge Frau von 18, 19 Jahren, die damals den Namen Irmgard D.
trug. Sie stammte aus einem Vorort von Danzig und war bis dahin in einer
Bankfiliale in Marienburg tätig gewesen. Nun gingen über ihren Schreibtisch
keine Zahlungsanweisungen mehr, sondern die Post des KZ-Kommandanten, die
eingehenden Fernschreiben der Inspektion der Konzentrationslager in
Oranienburg mit ihren Befehlen über ankommende und abgehende Häftlinge,
über Todeszahlen und Deportationen, und die entsprechenden Antwortschreiben
Hoppes.
Die Frage ist: Hat sich Irmgard F., wie sie heute heißt, damit der Beihilfe
zum Mord schuldig gemacht? Hat sie daran mitgewirkt, dass während ihrer
Tätigkeit in Stutthof 11.430 Menschen heimtückisch und grausam umgebracht
worden sind, wie es in der Anklageschrift heißt? Oder hat sie von all dem
gar nichts mitbekommen, nichts mitbekommen können? Das herauszufinden, ist
Aufgabe der Delegation des Landgerichts Itzehoe. Es ist wichtig, denn nur
wenn Irmgard F. nachgewiesen werden kann, dass sie damals Kenntnis von den
Grausamkeiten besaß, kann sie auch zur Rechenschaft gezogen werden.
Das Itzehoer Verfahren ist, 77 Jahre nach der Niederschlagung des
Nationalsozialismus, das erste gegen eine frühere Zivilangestellte in einem
KZ in der Bundesrepublik.
Einige Tage nach dem Ortstermin in Stutthof, zurück in der
schleswig-holsteinischen Kleinstadt, verliest der Vorsitzende der
Strafkammer, Dominik Groß, ein Protokoll über den Besuch. Danach habe die
Angeklagte aus den Fenstern des Geschäftszimmers in der Kommandantur auf
das „neue Lager“ blicken können, zu dem auch das so genannte „Judenlager“
zählte. Aus dem Zimmer des Kommandanten habe sich ein ähnliches Bild
geboten. Aus einem dritten Raum, der damals als Magazin diente, habe man
die Baracken des „alten Lagers“ sehen können, aber auch das Krematorium
sowie zwei der Wachtürme.
## 2.502 Jüd:innen im ersten Transport
Danuta Drywa arbeitet seit 44 Jahren als Historikerin in der Gedenkstätte
Stutthof, genauer in der früheren Kommandantur, wo auch Irmard F. ihren
Dienst tat. Die freundliche Polin gilt als beste Kennerin der Zustände in
dem ehemaligen KZ. Sie schreibt, dass die Leitung des 1939 eingerichteten
Lagers schon früh davon Kenntnis gehabt haben muss, dass beabsichtigt war,
dort ab 1944 in großem Umfang jüdische Häftlinge aufzunehmen. Die
Lagerleitung sei umorganisiert worden und Kommandant Hoppe wurde zweimal
nach Oranienburg in die Inspektion der KZ beordert.
Dabei ging es auch um die Verwendung von Zyklon B für die Ermordung von
Häftlingen, vom dem am 14. Juni 1944 zwei SS-Männer 50 Kilogramm dort
abholten. Vor allem aber entstanden 30 weitere hölzerne Baracken: das war
das „neue Lager“. Am 29. Juni 1944 erreichte ein erster Transport mit 2.502
ungarischen Jüdinnen das Konzentrationslager Stutthof.
Hohe, mit Stacheldraht gekrönte Zäune umgeben bis heute das, was früher
einmal das KZ war. In regelmäßigen Abständen stehen hölzerne Wachtürme mit
gläsernen Kanzeln, aus denen SS-Männer die Flucht von Häftlingen mit der
Schusswaffe zu verhindern hatten. In den Baracken des früheren „Lager I“
stehen dreistöckige Pritschen aus Holz eng beieinander. Es gibt keine
Waschgelegenheit, es existiert keine Heizung. Im Juni 1944 vegetierten hier
37.600 Gefangene in drangvoller Enge. Danach wurden es immer mehr, denn im
Osten eroberte die Rote Armee das bis dahin deutsch besetzte Land. Stutthof
wurde zur Auffangstation der Häftlinge, die von dort hergebracht wurden.
Einer von ihnen war Josef Salomonovic aus Wien. Bei seinem Auftritt in der
zum Gerichtssaal umgebauten Industriehalle am Rande von Itzehoe vor einem
Jahr ist er 83 Jahre alt. Der Mann mit dem vollen Haarschopf hat es auf
sich genommen, Zeugnis darüber abzulegen, was in Stutthof geschehen ist.
Salomonovic ist einer von 28 greisen Nebenklägern, die in dem Prozess als
Überlebende zugelassen sind. Einige von ihnen sind während der mehr als 14
Monate, die die Hauptverhandlung andauert, verstorben.
Salomonovic berichtet, dass er irgendwann 1944 in einen Zug gesetzt wurde,
genauer in einen Viehwaggon, der vom Ghetto Łódź nach Auschwitz fuhr,
zusammen mit den Eltern und dem Bruder. Wie es bald danach weiter nach
Stutthof ging, offenbar, weil seine Verwandten als so hoch qualifiziert
eingestuft waren, dass sie zum Wohle der deutschen Rüstungsindustrie noch
ein bisschen am Leben bleiben sollten.
## Phenolspritze ins Herz
„Es war das schlimmste Lager“, sagt Salomonovic. „Das Allerschlimmste war
der Hunger und die Kälte.“ Vater und Bruder seien ins Männerlager gekommen,
seine Mutter und er zu den Frauen. Dazwischen Stacheldraht. Josefs
Milchzähne fielen aus, aber es wuchsen keine neuen. Stundenlang hätten sie
bei Appellen stillstehen müssen. „Fünf Uhr früh, immer hundert in einem
Block. Wenn jemand umgefallen ist, dann wurde noch einmal gezählt. Wenn
jemand fehlte, auch.“ Er habe zwischen den Beinen seiner Mutter gestanden,
sie hätten sich gegenseitig gewärmt.
Der Zeuge berichtet, dass er im Lager einzig einen Löffel besessen habe.
Einmal habe es Karotten gegeben, offenbar aus einer Hilfslieferung aus
Norwegen. Die Mutter teilte die Karotte mit dem Löffel in zwei Hälften und
schob ihm seinen Anteil in den Mund.
Josef Salomonovic hält ein Foto in die Höhe, es zeigt einen mittelalten
Mann. Es ist sein Vater. An einem Tag, möglicherweise am 17. September
1944, war er in die Krankenstation gelockt worden. Dort erhielt er eine
tödliche Phenolspritze ins Herz.
Rund zwei Monate später hat Josef Salomonovic, nunmehr nur mit seiner
Mutter und dem Bruder, Stutthof in einem Viehwaggon wieder verlassen. Es
ging nach Dresden, in ein Außenlager des KZ Flossenbürg. Den Löffel trug er
bei sich.
Die 97 Jahre alte Angeklagte Irmgard F. hat der Aussage aufmerksam
zugehört, doch ohne eine sichtbare Regung. Damals, als der sechsjährige
Josef in der Baracke fror und hungerte, als er seinen Vater verlor, saß sie
in der gut geheizten Kommandantur, nur einen Steinwurf entfernt.
## Noch heiße menschliche Knochen
Nach Josef Salomonovic werden weitere Zeugen angehört, manche von ihnen
über Video, weil den Überlebenden die weite Reise nach Deutschland nicht
mehr zuzumuten ist. Die in den USA lebende 93 Jahre alte Asia Shindelman
berichtet, wie SS-Bewacher sie und ihre Verwandten mit Peitschen und Hunden
empfingen. Abraham Koryski (94) aus Israel sagt aus, dass er im Krematorium
noch heiße menschliche Knochen einsammeln musste und dass er täglich von
Toten umgeben war. Halima Strnand (95) aus dem australischen Melbourne
berichtet von der großen Typhus-Epedemie im Lager Anfang 1945, der ihre
Mutter und viele weitere Frauen zum Opfer gefallen seien.
Es gab in Stutthof viele Möglichkeiten, zu Tode zu kommen, mehr, als am
Leben zu bleiben. Da stand eine Baracke, in der ahnungslose Häftlinge durch
einen verborgenen Schlitz in einer Zwischenwand erschossen wurden; die
NS-Bürokratie erfand dafür den Namen „Genickschussanlage“. In einer Kammer
und später in einem abgedichteten Wagen einer Kleinbahn ermordete die SS
Häftlinge durch den Einsatz von Zyklon B. Menschen wurden aus nichtigem
Anlass erschossen, andere mit einer tödlichen Injektion ermordet. Vor allem
aber starben sie durch die lebensfeindlichen Bedingungen: den
immerwährenden Hunger, die beißende Kälte, die fehlende Hygiene, kaum
vorhandene medizinische Hilfe, und das bei grassierenden Seuchen.
Etwa 65.000 Menschen, so eine Schätzung, kamen in Stutthof zwischen 1939
und 1945 ums Leben.
Irmgard F. hat in ihrem Verfahren keine Aussage getroffen, nicht zu ihrer
Rolle im Lager, nicht zu ihrem Alltag, nicht zu ihrer Arbeit. Das ist ihr
Recht als Beschuldigte. Nur ganz am Ende, bei den letzten Worten Anfang
Dezember, als ihr Anwalt einen Freispruch verlangt, tut sie den Mund auf:
„Es tut mir leid, was alles geschehen ist. Ich bereue, dass ich zu der Zeit
gerade in Stutthof war. Mehr kann ich nicht sagen.“
## Sie leugnete, im Lager gewesen zu sein
Sie hat allerdings Ende September letzten Jahres, ganz zu Beginn des
Prozesses, deutlich gemacht, was sie von dem Verfahren hält. Da ist sie
nicht vor Gericht in Itzehoe erschienen, sondern hat sich mit einem Taxi
aus ihrem Pflegeheim in Quickborn nach Hamburg davongemacht, einen Brief
hinterlassend, dass sie ihrem Prozess nicht beizuwohnen gedenke. Noch am
selben Tag fasst die Polizei die Flüchtige. Die Episode bringt Irmgard F.
einen kurzzeitigen Aufenthalt in der Haft und anschließend zur Überwachung
eine Fußfessel ein. Fortan ist sie anwesend, sitzend im Rollstuhl in einem
Glaskasten links der Richterbank, um die Gefahr einer Covid-Infektion für
die Ungeimpfte zu verringern.
Es ist freilich einiges mehr über Irmard F.s Vergangenheit bekannt, auch
wenn ihr Verteidiger Wolf Molkentin dafür gesorgt hat, dass nicht alles
davon vor dem Gericht eingeführt werden darf. Denn die ehemalige
KZ-Sekretärin ist keine ganz Unbekannte für die bundesdeutsche Justiz. Ihre
Tätigkeit ist schon lange aktenkundig, nur hat es in all den Jahrzehnten
zuvor niemand für notwendig befunden, sie deswegen auch zu Verantwortung zu
ziehen. Denn Menschen wie sie galten der Justiz lange als Randfiguren,
deren strafrechtliche Verfolgung nicht geboten schien.
Schon 1954 gab sie in einer Zeugenvernehmung in Lübeck an, der gesamte
Schriftverkehr im Lager sei über ihren Schreibtisch gegangen. Von
Erschießungen und Vergasungen aber habe sie nichts gewusst. Zehn Jahre
später erklärt sie in einer weiteren Vernehmung, sie habe niemals das Lager
selbst betreten. 1982 sagte sie, sie könne sich nicht an den Inhalt der
Schreiben erinnern, die Lagerkommandant Hoppe ihr diktiert habe.
Gründe dafür, aus der Zeugin Irmgard F. eine Beschuldigte zu machen, sahen
die Justizbehörden damals nicht.
Vielleicht war die Arbeit in der Kommandantur für die junge Irmgard aber
auch gar nicht so übel. Denn dort lernte sie offenbar den
SS-Oberscharführer Heinz Furchtsam kennen. Eine Liebe im KZ. 1954 wurde
geheiratet, da hatte Furchtsam seinen für einen SS-Mann so unpassenden
Nachnamen schon geändert. Es muss um diese Zeit gewesen sein, als das
Ehepaar Besuch alter Stutthof-Kameraden in ihrer Wohnung empfing, darunter
den früheren Kommandanten Paul-Werner Hoppe. 1972 starb der Ehemann.
Irmgard F. arbeitete bis zu ihrer Verrentung als Verwaltungsangestellte in
einer norddeutschen Kleinstadt. Sie erhielt keine Vorstrafen.
## Herrschaftliche Villa mit Garten
Erst 2015 beginnen neue Ermittlungen. Die bundesdeutsche Rechtsauffassung
hat sich inzwischen verändert. Als Beihilfe zum Mord kann nun gewertet
werden, wenn eine Beschuldigte oder ein Beschuldigter allein durch seine
aktive Anwesenheit in einem Vernichtungs- oder Konzentrationslager
wissentlich dazu beigetragen hat, dass die Mordmaschine weiter
funktionierte. Als Irmgard F. im Februar 2017 anlässlich einer
ergebnislosen Durchsuchung im Zimmer ihres Pflegeheims erneut vernommen
wird, sagt sie aus, sie wisse nicht mehr, was sie für Hoppe geschrieben
habe. Außer dass es einmal um eine Bestellung für Gartenbedarf gegangen
sei, da habe er ein Faible für gehabt.
Das könnte sogar passen. Denn Paul-Werner Hoppe bewohnte als KZ-Chef in
Stutthof eine nahe gelegene herrschaftliche Villa, „weißes Haus“ genannt,
die gewiss mit einem hübschen Garten ausgestattet war.
Zwei Jahre Jugendhaft auf Bewährung hat Staatsanwältin Maxi Wantzen in
ihrem Pladoyer für Irmgard F. gefordert. Das hört sich lächerlich wenig an
angesichts einer Anklage der Beihilfe zum Mord in mehr als 10.000 Fällen.
Aber die Justiz muss auch bedenken, dass ein Urteil im Verhältnis zu
früheren Schuldsprüchen gegen andere KZ-Verantwortliche steht. Zwei Jahre
auf Bewährung, das erhielt vor zwei Jahren auch der frühere Wachmann von
Stutthof, Bruno D., bei seiner Verurteilung durch das Landgericht Hamburg.
Fünf Jahre, so lautete im Juni dieses Jahres das Urteil gegen Josef S., der
im KZ Sachsenhausen Wachdienste schob, durch das Landgericht Neuruppin.
Doch Bruno D. und Josef S. zählten zur Wachmannschaft. Sie bewegten sich
innerhalb des umzäunten Lagers, besaßen von Türmen aus gar einen ständigen
Überblick. Trägt Irmgard F. durch ihre Schreibtischtätigkeit weniger
Schuld? Oder ist sie deswegen gar unschuldig?
Andererseits ist auch ein Prozess gegen eine 97-Jährige Greisin, in dem es
um lange zurückliegende Taten geht, kein Geschichtsunterricht. Es geht auch
um etwas, was Juristen Generalprävention nennen. Ein Urteil soll
abschreckende Wirkung haben gegenüber möglichen künftigen Taten ähnlicher
Natur. Man muss in diesen Tagen nur einige Hundert Kilometer nach Osten
schauen, um zu verstehen, was damit gemeint ist.
Das Strafmaß ist nicht das Wichtigste in so einem Verfahren, so äußern sich
viele Überlebende des Naziregimes. Wichtig sei, dass es überhaupt solche
Verfahren noch gebe, dass sich Deutschland seiner Verantwortung stelle –
und dass sie die Gelegenheit erhielten, Zeugnis abzulegen über das, was
geschehen ist. Der Zeuge Josef Salomonovic aus Wien drückte es nach seiner
Vernehmung so aus: „Angenehm ist das nicht, hier zu sein. Es ist eine
moralische Pflicht.“
Das Gericht in Itzehoe will am 20. Dezember sein Urteil sprechen.
19 Dec 2022
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