# taz.de -- Mein Vormieter Max Anschel (6): Das Leben im Nazinest nach dem Krieg

> Max Anschel kam ins KZ, weil Nachbarn ihn im Luftschutzkeller anzeigten.
> Seine Frau lebte noch 20 Jahre in dem Haus, Seite an Seite mit den
> Denunzianten.
Das Bittschreiben an Heinrich Himmler

Dieser Brief ist eine echte Überraschung – schon wegen des Adressaten. Ein
Jahr nachdem Max Anschel nach Auschwitz deportiert wurde, schreibt seine
Frau Anna Anschel an [1][Heinrich Himmler. Der Mann, der als Reichsführer
SS] und zu der Zeit auch Reichsinnenminister die zentrale Instanz der
Judenvernichtung war, ist ihre letzte Hoffnung. Und ihm schildert sie die
Geschichte, wie ihr Mann von einem Nachbarn denunziert wurde – und so ins
KZ kam.

Heute finde ich den Mut, Ew. Exzellens um Gnade für meine Mann Max Israel
Anschel zu bitten. 

So beginnt Anna Anschel ihren Brief. Und schon dieser erste Satz ist ein
Akt verzweifelter Unterwürfigkeit. Sie nennt ihren Mann mit dem zweiten
Vornamen „Israel“, den er als Jude zwangsweise tragen musste.

Mein Mann, mein Mädchen und ich hielten uns bis zum November 1943 bei
Fliegeralarm in dem unteren Kellergang des Hauses, von dem rechts und links
insgesamt 7 Türen abgehen, die zu Wohnungen führen, auf, 

schreibt Anna Anschel weiter. Erst als die Heftigkeit der feindlichen
Angriffe zugenommen hatte, habe sie ihren Mann gebeten, mit ihr in den
besser befestigen Luftschutzkeller zu gehen.

Als wir das taten, bedrohte mich der Luftschutzwart mit Anzeigen, weil wir
„vorn“ bleiben sollten“, 

schreibt Anna Anschel an Himmler.

Am 15.1.1944 klingelte es an unser Wohnungstür. Der Luftschutzwart erklärte
mir persönlich: „Ich habe Polizeigewalt. Sie müssen in den
Hausluftschutzkeller. Ihr Mann und ihr Kind, falls sie im Hause sind,
dürfen weder in den Keller noch in der Wohnung verbleiben, sondern haben
sich unter meiner Aufsicht aufzuhalten. Bewegen sie sich nicht nach meinen
Vorschriften, gibt es eine Anzeige.“

Von dieser Zeit an holte der Luftschutzwart sofort zu Beginn des Alarms
meinen Mann mit den Worten: „kommen Sie nach vorn“ aus dem Keller. Dort
liess er ihn von Anfang bis Ende des Alarms stehen, ohne, dass je ein
Kontrollgang gemacht wurde.

Vor einem erneuten Luftalarm habe sie sich sogar von der Kommandostelle der
Luftschutzpolizei bestätigen lassen, dass dieses Vorgehen unzulässig sei,
schreibt Anna Anschel an Himmler. Aber der Luftschutzwart Krüger und der
Selbstschutztruppführer Klatt hätten dennoch Anzeige erstattet, dass der
„Jude Anschel Kontrollgänge verweigert habe“ – nur weil er sich einmal
geweigert habe „nach vorne“ zu gehen. Dabei, betont seine Frau, habe sich
ihr Mann nie gegen Kontrollgänge gewehrt.

Bei den Löscharbeiten um das Kino „Harmonie“ in der Invalidenstraße hat
sich mein Mann betätigt. Auch alle sonst vorkommenden Arbeiten im
Luftschutzkeller hat er mit ausgeführt. 

Wenig später wurde Max Anschel als Folge der Anzeige von der Gestapo
verhaftet. In ihrem im Juni 1945 verfassten Lebenslauf schreibt Anna
Anschel:

Nun kam der Februar 1944. 2 Gestapobeamten holten eines Abends meinen Mann.
Am anderen Tage ging ich zur Gestapo. Der Sachbearbeiter Schwöbl – ein
berüchtigter Sadist und Schläger – sagte mir persönlich: 

„Ich habe soeben ihren Mann wegen Feindbegünstigung verhaftet, da er
Kontrollgänge verweigert hat. Die Zeugen sind der Parteigenosse Klatt und
Krüger. Ihr Mann hat bereits gestanden. Sie können sich ja denken, was
einem Staatsfeinde blüht. Warum sind sie noch nicht von den Juden
geschieden?“

Antwort: „Ich sehe ja in meinem Mann nicht den Juden, sondern meinen Mann.“ 

Schwöbl: „Rauss Sie Judenhure! Dass ich sie nicht noch verhafte!“ 

Mein Mann kam ins Reichsarbeitserziehungslager Wartenberg unter S.S.
Hauptsturmführer Weber – der die Leute glatt hungern liess. Alles, was ich
an Lebensmittel hatte, sandte ich meinem Manne. Auch besuchte ich ihm
heimlich. Eine schwere Flecktyphuserkrankung erfasste meinem lieben Mann. 

Von seiner schweren Krankheit kaum genesen, kam er ins Polizeigefängnis.
Durch einen Zufall erfuhr ich davon. Nach grosser Bemühung bekam ich
Sprecherlaubnis. Mein Mann erzählte mir schweren Herzens, dass er einen
langen vorgedruckten Bogen unterschreiben musste, worin mit Tinte
ausgefüllt stand, dass er durch seine staatsfeindliche Haltung dem Feinde
Vorschub leistete und dadurch die Anordnungen des Staates sabotierte.
Deshalb hat er als Staatsfeind in Sicherheitsverwahrung zu verbleiben. 

Ein letztes Treffen im Keller der Polizei

Einen im Polizeigefängnis diensthabenden Beamten bestach ich. (…) Eines
Abends liess mich der Beamte Müller in ein Kellerloch blicken. Ein Keller
ohne Fenster, ohne Sitz- oder Schlafgelegenheit. Auf dem Steinboden lag
mein Mann, ein an Typhus sehwer erkrankt gewesener 57-jähriger Mensch.
Leise rief ich: „Männe!“ Mein Mann erschrak sehr und ebenso leise kam es
zurück: „Liebling gehe.“ 

Durch den Beamten konnte ich ihm auch noch Worte des Trostes senden und
bat, doch auszuhalten, da doch die Stunde der Befreiung endlich bald kommen
müsste. Auch er sandte mir liebe, tröstende Worte. 

Eines Tages war er nicht mehr da. Aus Auschwitz bekam ich später Nachricht.
Ich sandte ihm an Lebensmittel, was ich nur entbehren konnte, im Dezember
auch noch Winterkleidung. Seit dem 22.10.1944 bin ich ohne Nachricht. Nun
suche und frage ich überall nach. Oft bin ich ganz verzagt. 

Der Luftschutzkeller im Nachbarhaus

In den verschieden Schriftstücken, die in den Mappen des Landesarchivs
abgeheftet sind, finden sich immer wieder Details, die den Ablauf
plastisch, nachvollziehbar machen.

An einer Stelle wird beiläufig erwähnt, dass der Luftschutzkeller unter der
Brunnenstraße 169 lag. Das dortige Haus teilt sich mit dem Wohnhaus der
Anschels einen gemeinsamen Hinterhof.

Dort wohnt seit vielen Jahren der Eventmanager Christian Anslinger, den ich
mal bei einem Kulturprojekt kennengelernt hatte. Er kennt sich aus mit
Kellern – vor allem mit solchen, die seit den frühen 1990er Jahren von der
Technoszene für Partys genutzt wurden. Christian drückt mir das großartige
[2][Fotobuch „Temporary Spaces“ in die Hand, für das der Fotograf Martin
Eberle] die häufig illegal genutzten Räume vieler Clubs dokumentiert hat.
Darunter der „Eimer“ und der „Club 4 Chunk“, die von hier nur ein paar
hundert Meter die Straße runter lagen. Aber das ist eine völlig andere
Schicht der neuen Berliner Stadtgeschichte.

In seinem Wohnhaus war er schon lange nicht mehr im Keller. „Das ist
ekelig“, warnt Christian, „alles voller Ratten.“ Von einem Luftschutzkeller
dort unten weiß er nichts. Aber er gibt mir den Schlüssel, damit ich selber
nachschauen kann.

Die Treppe führt vom Hof in modrig riechende, flache Gänge. Zum Glück ist
von den Ratten nichts zu sehen. In einer Ecke wächst ein großer Pilz. Hier
und da steht Gerümpel, ein paar neuer wirkende Leitungen und Rohre lassen
erkennen, dass hier nicht alles seit Jahrzehnten unberührt geblieben ist.
Die Verschläge haben, wenn überhaupt, Holztüren. Nur einer nicht. Er hat
eine Stahltür, die sich von innen und außen mit großen Hebeln verriegeln
ließe. Bin ich hier richtig?

Auf der Innenseite ist eine Plakette angebracht. „Fr. Richardt Stahlbau
Hameln/Weser“ steht darauf. Und etwas kleiner darunter: „Vertrieb gem. §8
Luftsch.-Ges. genehmigt“. Ja, ich bin fündig geworden.

Das Luftschutzgesetz wurde von den Nazis bereits im Jahr 1935 erlassen – es
wurde dokumentiert [3][in der Zeitschrift Gasschutz und Luftschutz vom Juli
1935]. Diese Zeitschrift für das gesamte Gebiet des Gas- und Luftschutzes
der Zivilbevölkerung, wie sie im Untertitel hieß, erschien bereits seit
1931. Sie „behielt nach der nationalsozialistischen Machtergreifung 1933
ihren Charakter als Fachblatt; offene Propaganda blieb eher die Ausnahme.
Gleichwohl stand sie dem Dritten Reich positiv gegenüber – dieses förderte
den zivilen Luftschutz energisch, später auch zur Kriegsvorbereitung“,
[4][heißt es bei Wikipedia].

Und sie dokumentiert, dass Luftschutz schon 1935 mehr als prophylaktische
Theorie war. Das zeigen in der Ausgabe nachlesbare Berichte von der großen
Luftschutzübung im März 1935. „Die gezeigte Vollübung war sehr sorgfältig
bis ins kleinste vorbereitet und klappte im großen Ganzen vorzüglich“,
heißt es an einer Stelle. Selbst die „Abwicklung des Verkehrs ging in der
verdunkelten Reichshauptstadt Berlin erstaunlich glatt vor sich. Mag auch
der herrlich vom Himmel scheinende Vollmond geholfen haben, diese
erstmalige Verdunkelung der Reichshauptstadt in mildem Licht erscheinen zu
lassen, so werden sich auch bei Neumond die angewandten Maßnahmen
bewähren.“ Offenbar ging man schon damals, vier Jahre vor dem Überfall auf
Polen, davon aus, dass es Anlass geben könnte, Berlin zu bombardieren.

Auch über die Firma Richardt Stahlbau findet man Einschlägiges. Auf der
Webseite [5][gelderblom-hameln.de] hat der [6][Geschichtslehrer Bernhard
Gelderblom] die Geschichte der Stadt abseits vom Rattenfänger dokumentiert.
Es geht um die Judenverfolgung in der niedersächsischen Stadt. Und [7][um
Zwangsarbeit]. „In den Spitzenzeiten der Jahre 1944 und 1945 arbeiteten in
Hameln und dem Landkreis mehr als 7.000 Personen“ in Zwangsarbeit vor allem
in den weitgehend auf Rüstungsproduktion umgestellten Fabriken, schreibt
Gelderblom.

Zwangsarbeit für Luftschutztüren in Hameln

Eine davon war die Firma Richardt Stahlbau. [8][Ein Text berichtet über den
Besuch einer Polin], die 1944 in Hameln zur Welt kam, weil ihre Eltern dort
Zwangsarbeit seit 1942 leisten mussten: „Und dank des heimischen
Historikers Bernhard Gelderblom finden die Kwaskiewicz’ am letzten Tag auch
heraus, wo Vater Piotr seinerzeit als Zwangsarbeiter beschäftigt war: bei
der ehemaligen Firma Stahlbau Richardt, als Schweißer von Luftschutztüren.“

Hat er an der Tür mitgearbeitet, die hier noch im Keller steht? Hinter der
Max Anschel nicht Schutz suchen durfte?

Die Decke des niedrigen Kellers scheint mit Betonplatten verstärkt zu sein.
Eventuell einst vorhandene Fenster zur Straßenseite sind zugemauert. An
einer Wand des kaum mehr als 20 Quadratmeter großen Raumes finden sich
Holzpanele. Hier sollten die Bewohner:innen von zwei Berliner
Mietshäusern Schutz finden, während die Alliierten die Stadt bombardierten.

Von der Tür bis zur Kellertreppe, an der Max Anschel „vorne“ trotz
Bombenalarm warten musste, sind es keine zwei Meter. Hier also kam es zum
Streit zwischen den Anschels und den Luftschutzwarten Klatt und Krause.

Geht man die Treppe wieder hoch zum Hof, atmet man auf. Und blickt auf
Haus, in dem die Anschels lebten.

Vier Wochen bis zur Deportation?

Die Eskalation im Luftschutzkeller fand offenbar am 21. Januar 1944 statt –
auch das wird in einer der Zeugenaussagen erwähnt. In der Nacht hatte die
Royal Air Force einen Großangriff mit mehr als 1.000 Flugzeugen gestartet.
Die Menschen in Berlin flüchten sich wieder in die Keller.

An anderer Stelle heißt es beiläufig, dass Max Anschel am 17. Februar 1944
nach Auschwitz deportiert wurde. Wenn das Datum stimmt, vergingen vom
Streit im Keller bis zur Deportation keine vier Wochen.

Allerdings lässt sich das Datum nicht verifizieren. Im Netz finden sich an
verschiedenen Orten die Deportationszüge von Berlin nach Auschwitz
aufgelistet. [9][Einen Transport nach Auschwitz] gab es erst 5 Tage später
am 22. Februar. Auf der Webseite [10][statistik-des-holocaust.de] findet
sich gar [11][die Passagierliste] dieses „49. Osttransports“. Der Name
Anschel steht nicht darauf. Auch auf den vielen anderen dort publizierten
Listen finde ich ihn nicht.

Eine neue Spur ins KZ Majdanek

Kurz bevor diese Texte online gehen, habe ich noch eine andere Idee. Anna
Anschel erwähnt in einem Schreiben, die Häftlings-Nummer, die ihr Mann in
Auschwitz auf den Arm tätowiert bekam: 190 795. Das Arolsen-Archiv hat
[12][eine Liste ins Netz gestellt, in der man sehen kann, wann welche
Nummern vergeben wurden]. Demnach ist Max Anschel erst im August 1944 in
Auschwitz angekommen.

Im Jakob-und-Wilhelm-Grimm-Zentrum der Berliner Humboldt-Universiät finde
ich das Buch „Kalendarium der Ereignisse im Konzentrationslager
Auschwitz-Birkenau 1939 – 1945“ von [13][Danuta Czech. Die polnische
Historikerin,] deren Vater Auschwitz knapp überlebt hatte, hat diese
1.000-seitige Chronik des Grauens in den 1950er und 60er Jahren anhand ihr
zugängliche Akten erstellt. Man kann dort nachlesen, was Tag für Tag in
Auschwitz passiert ist. Wieviele Menschen vergast wurden. Aber hin und
wieder auch, dass einem Häftling der Ausbruch gelungen war.

In der 1989 erschienenen deutschen Version kann man unter dem 6. August
1944 nachlesen: „Die Nummern 190765 bis 190835 erhalten 71 Häftlinge, die
mit einem Evakuierungstransport aus dem KL Lublin (Majdanek) nach zwei
Wochen im KL Auschwitz eintreffen. Wahrscheinlich wurden diese Häftlinge
zusammen mit den beweglichen Gütern, den Büroeinrichtungen u.ä., die ins KL
Auschwitz transportiert wurden, evakuiert.“

Das Konzentratiosn- und Vernichtungslager Lublin/Majdanek lag rund 260
Kilometer nordöstlich von Auschwitz. Hier kam die Rote Armee deutlich
früher an. Und die Nazis hatten schon im April begonnen, das KZ zu räumen.
Am 22. Juli 1944 wurde das Lager aufgeben. Einen Tag bevor sowjetisvche
Truppen Majdanek erreichten, wurden noch mehrere hundert Gefangene
erschossen, [14][heißt es auf der Seite des Majdanek-Museums]. 800 weitere
wurden bewacht von SS-Männern zunächst auf einen tagelangen Fußmarsch
geschickt, bis sie schließlich mit einem Zug nach Auschwitz transportiert
wurden, wo sie zwei Wochen später ankamen.

Max Anschel scheint einer von ihnen gewesen sein. Allerdings fehlt sein
Name auf der Gefangenen-Liste dieses Transports, [15][die das
Majdanek-Museum veröffentlicht hat]. Aber sie zeigt nur einen Ausriss. Aber
das KZ Lublin-Majdanek dürfte eine weitere Station auf dem Leidensweg von
Max Anschel gewesen sein.

## Die Hoffnung auf ein Wiedersehen

Ihren Anfang 1945 verfassten Brief an die „Ehrenwerte Exzellenz“ Heinrich
Himmler beendet Anna Anschel mit einer flehenden Bitte:

Mein Mann ist (…) Kriegsteilnehmer mit der Auszeichnung des
Frontkämpfer-Ehrenkreuzes und E.K. II. Meine Ausführungen, hochverehrter
Herr Reichsminister, beweisen und zeigen, dass mein Mann das Opfer eines
Irrtums ist. Als Frau und Mutter flehe ich Sie inständigst an, Ihre grosse
Gnade walten zu lassen und meinen Mann zu befreien. Seien Sie meines steten
Dankes gewiss. 

Dass ihr Mann da schon mehr als zwei Monate tot war, konnte sie nicht
wissen. Selbst im Juni 1945 hatte sie die Hoffnung auf ein Wiedersehen
nicht aufgegeben: Am Ende ihres Lebenslaufs schreibt Anna Anschel:

Mein grösster Herzenswunsch ist der, recht bald meinen Iieben Mann bei mir
zu haben, um ein neues leben mit ihm in einer anderen Wohngegend beginnen
zu können.

Dass Himmler jemals geantwortet hat, scheint unwahrscheinlich. Er wurde
wenige Tage nach Kriegsende verhaftet und beging am 23. Mai 1945 Suizid.

Der lange Kampf um verlorenes Vermögen

Mit dem Ende des Krieges am 8. Mai 1945 und dem Untergang des NS-Regimes
mag Hoffnung aufgekommen sein bei Anna und Ruth Anschel. Doch der Schrecken
war noch lange nicht vorbei. Im Gegenteil, er zog sich über Jahrzehnte.
Weil Max Anschel nicht zurückkam. Weil die Nachbarn dieselben waren wie in
der NS-Zeit. Und weil die Anschels durch die Nazis ihr Vermögen verloren
hatten.

Das zumindest versuchten Anna und Ruth Anschel in jahrelanger Arbeit
zurückzubekommen. Auf der Webseite des Niederländischen Nationalarchivs
finde ich einen Hinweis auf Akten zu Anna Anschel. Ich lasse sie mir
zuschicken. Es sind Briefwechsel mit Banken und Institutionen, mit denen
Anna Anschel an Geld herankommen will, das ihr Mann Max bei der Hugo
Kaufmanns & Co Bank angelegt hatte. Die Akten beginnen im Jahr 1947, als
Anna Anschel versucht, eine „Nichtfeinderklärung“ zu bekommen.

Und sie enden fünf Jahre später mit Briefen, in denen bescheinigt wird,
dass Ruth Anschel als Erbin von Max nun von den ursprünglich 3.850 Gulden,
nach Abzug von Auslagen und Abgaben noch 3.446 Gulden ausgezahlt werden
können.

„Im letzten Brief erhält Frau Anschel die Zusage, dass sie das Vermögen
zurückerhalten soll. Es war zuvor als mögliches ‚Feindvermögen‘ eingestuft
worden“, erklärt mir ein taz-Kollege, der Holländisch lesen kann.

Ebenso lang zieht sich ein Briefwechsel zwischen Ruth Anschel und ihren
Vertretern auf der einen und der Deutschen Bank auf der anderen Seite. Es
beginnt mit einem „Antrag auf Wiedererstattung von übertragenem Vermögen“,
den im November 1950 die Jewish Restitution Successor Organization als
Treuhänder im Namen von Ruth Anschel stellt.

Es geht anfangs um 3.000 Reichsmark, die Max Anschel bei der Deutschen Bank
für seine Tochter deponiert hatte. Hier schreibt die Deutsche Bank Ende
1955, dass ein Anspruch von 1.000 Reichsmark bereits 1951 eingelöst worden
sei. „Der Gegenwert in Höhe von DM 77,65 wurde bei der Berliner Disconto
Bank A.G. gutgeschrieben, die ihn abzüglich DM 1,50 Gebühren“ für die
Einholung einer Genehmigung an Anna Anschel ausgezahlt habe.

Dass es Anna Anschel nicht gut ging, lassen weitere Papiere aus dem
Landesarchiv erkennen. Immehin wurde sie in der Sowjetischen Besatzungszone
schnell als Opfer des Faschismus anerkannt und mit einem entsprechenden
ODF-Ausweis ausgestattet. Das aber hatte Neid und Missgunst bei den
Nachbar:innen zufolge – und heftigste Anschuldigungen.

Die erneute Denunziation durch die Nachbarn

In einem Schreiben vom 5. August 1946 mit dem Betreff „Sachen Anschel“
fasst der damalige Straßenobmann der Elisabethkirchstraße, Wilhelm
Gädheimer, die Vorwürfe zusammen. Demnach sollen nicht die Luftschutzwarte
Klatt und Krüger an der Deportation von Max Anschel schuld gewesen sein,
sondern seine Ehefrau Anna.

„Anschel stand bei seiner Frau unter dem Pantoffel, und hatte nur das
auszuführen, was seine Frau sagte“, schreibt Gädheimer. Nur deswegen habe
Max Anschel die Anweisungen der Luftschutzwarte zurückgewiesen.

„Krüger machte daraufhin Anzeige bei der Polizei Gartenstrasse, welche zur
Folge hatte, dass Anschel zu RM 80,- Geldstrafe verurteilt wurde. Auch hier
hat sich Frau Anschel geweigert, dass Geld zu bezahlen. Daraufhin wurde
Anschel von der Gestapo nach dem Lager Theresienstaat abgeholt“, schreibt
Gädheimer weiter.

Er fasst damit die Aussagen von Anschels Nachbar:innen zusammen, die
diese mit mehreren eidesstattlichen Erklärungen untermauern.

Unter den Nachbar:innen, die Anna Anschel beschuldigen, ist auch die Frau
von P.G. Klatt, der – so Gädheimer – im August 1945 abgeholt worden sei und
sich seitdem in Sachsenhausen befinde. Dort hatten die Nazis ein KZ
betrieben, das die Sowjets nach der Befreiung selbst als rüdes
Gefangenenlager nutzten.

Aufgrund des Schreibens von Gädheimer lädt der „Hauptausschuss Opfer des
Faschismus“ zahlreiche Nachbarn ein. Ein Fritz Neumann bestätigt, dass Anna
Anschel selbst schuld daran sei, dass ihr Mann ins Lager kam. Das
Nachbarpaar Max und Klara Krause unterstellt Anna Anschel, sie habe ihren
Mann als „Judenschwein und Stinkjude“ bezeichnet. Mehrere Nachbarn kreiden
Anna Anschel an, dass ihr Mann, der zu der Zeit einem Arbeitsverbot
unterlag, „die gewöhnlichsten Hausarbeiten verrichten“ musste, „die große
Wäsche“. Auch wird ihr zum Vorwurf gemacht, dass ihr „Mädel“ im BDM gewesen
sei.

Die Konsequenz ist hart: Anna Anschel wird tatsächlich der Ausweis „Opfer
des Faschismus“ abgenommen.

## Tatsachenverdrehung im Nazi-Nest

Doch zum Glück hat sie nicht nur feindlich gesinnte Menschen in ihrem
Umfeld. Unter ihren Schreiben an den „Hauptausschuss“ nennt Anna Anschel
gleich 20 mögliche Zeugen für ihre Sichtweise – darunter viele Freunde aus
dem Kiez, aber auch fünf Mieter:innen ihres Hauses, die ebenfalls im
Luftschutzkeller waren. Von einigen finden sich Bericht und eidesstattliche
Erklärungen in den Akten.

So schreibt Alfred Jarre, der am Arkonaplatz wohnte, dass er die Familie
seit 20 Jahren kenne: Zu den Denunziationen (…) über Frau Anschel
zugegangen sind, möchte ich bemerken, dass ich im Hause der Frau Anschel
eine für die Gesinnung der dortigen Hausbewohner bezeichnende Erfahrung
gemacht habe: Im Januar 1941 wollte ich als Soldat die Familie Anschel
besuchen. Ich traf aber niemand an. Da öffnete die Nachbarin, Frau Krause,
ihre Türe und sagte zu mir: „Wissen Sie auch, dass die Anschels Juden
sind?“ Ich antwortete „Das macht doch nichts, es sind meine Bekannten.“
Darauf Frau Krause: „Schämen Sie sich nicht als deutscher Soldat bei
solchem Judenpack zu verkehren!“

Auch Frau Küstermeier vom Katholischen Hilfswerk schaltet sich in den
Streit ein. Sie berichtet, dass ein Herr Wenske bei ihr erschienen sei, der
seit vielen Jahren mit Anschels in Geschäftsverbindung gestanden habe. Der
bezeuge, „dass er, als er als Händler die Anschels besuchen musste, im Haus
sehr oft angepöbelt wurde, was er bei diesem Judenpack zu suchen hätte“.

Und Helene Arndt, eine Bekannte aus der Krausnickstraße, schreibt, dass
„mir Frau Anschel für den Fall, dass mein Mann, der ja Sternträger war,
abgeholt würde, ihre Hilfe angeboten“ habe. Sie wollte ihn sogar bei sich
verstecken.

Am 21.10.46 stellt ein Herr Wolff in einem zusammenfassenden Schreiben an
den Hauptausschuss „Opfer des Faschismus“ fest, dass die Anschuldigungen
der Nachbarn „vollständig den Tatbestand“ verdrehen. Es gebe eine
eidesstattlichen Aussage, „dass das Haus, in dem Frau Anschel wohnt, ein
richtiges Nazi-Nest war“. Und weiter: „Ich habe das Gefühl, als ob in
dieser Angelegenheit ein Kesseltreiben gegen Frau Anschel gemacht wird von
denselben Leuten, die nichts dazu beigetragen haben, dass Herr Anschel
nicht in's KZ kam.“

Der Autor des Schreibens verbürgt sich auch persönlich für Anna und Max
Anschel:

„Ich selbst sowie 25 meiner Kameraden, die mit Anschel im Lager Wartenberg
waren, können jederzeit bezeugen, dass Herr Anschel die Schuld an seiner
Haft dem Luftschutzwart resp. dem Luftschutz-Kontrolleur gab. Die 25
Kameraden von ihm haben Herrn Anschel als einen sehr freundlichen Menschen
kennengelernt, der immer sich lobend über seine Frau aussprach.“

Er kommt daher zu dem Urteil: „Die Wirklichkeit ist đoch so, dass Herr
Anschel nicht auf Veranlassung seiner abgeholt wurde und in's KZ kam,
sondern durch die Anzeige des Luftschutzwartes, der durch die Russen
abgeholt worden ist, gemacht hat.“

Wolffs Brief endet mit dem Satz: „Meine persönliche Meinung ist, dass Frau
Anschel aus der Gegend herauszieht und ihr der Ausweis wiedergegeben wird.“

Zehn Tage später wird Anna Anschel der Ausweis „Opfer des Faschismus“
wieder ausgehändigt – in Gegenwart mehrerer Zeugen, darunter der spätere
Präsident des Zentralrat der Juden in Deutschland, Heinz Galinski, der sich
in den Nachkriegsjahren an den OdF-Ausschüssen beteiligt hatte.

Ruhe geben die Nachbar:innen dennoch nicht. 1947 erstattet die Nachbarin
Else Selchow Anzeige gegen Anna Anschel. Selchow, so geht aus den
Unterlagen hervor, war anfangs selber mit einem Juden verheiratet, ließ
sich aber von ihm scheiden, bevor er offenbar deportiert wurde. „Auf Grund
der Haltlosigkeit der Anschuldigung der Frau Selchow wurde die Sache zu den
Akten gelegt. Der kleine Zettel, den Frau Selchow geschrieben hatte, wurde
von uns in den Papierkorb geworfen“, gibt der Bezirksauschuss Opfer des
Faschismus daraufhin zu Protokoll.

Ende 1949 geht ein weiteres Schreiben an den Hauptausschuss Opfer des
Faschismus ein, wieder von einer Nachbarin, die sich auf die Aussagen von
Krause, Klatt, Selchow und anderen beruft. In einem Vermerk des Ausschusses
dazu heißt es, man habe Anna Anschel deswegen zwar vorgeladen, aber „von
einer erneuerlichen Vernehmung Abstand genommen, da die Anschuldigungen
dieselben sind, wie bereits im Jahre 1946 erhoben worden“. Und weiter:
„Frau Anschel macht einen nervösen Eindruck, ist etwas impulsiv und wird
dadurch immer wieder in Kollusionen mit den Mietern geraten.“

Und erneut wird als gangbarer Ausweg aus dem „Nazi-Nest“ ein Umzug
nahegelegt. „Wir haben Frau Anschel gebeten, wenn es ihr möglich ist, die
Wohnung zu wechseln.“

Sie ist dennoch geblieben. Noch fast 20 Jahre.

Spuren, überall Spuren

Je mehr man sich mit so einer Geschichte befasst, desto mehr Spuren findet
man. Hinweise, Details, die die Zeit der Schoah lebendig werden lassen. Sie
sind überall. Gerade in Berlin. Das wissen um das Schicksal der Familie
Anschel verändert meinen Blick auf sie. Aber nicht alle Spuren führen auch
zum Ziel. Manche führen weit weg, in manchen verliert man sich.

Einmal suche ich im Deutschen Zeitungsportal, das viele Printprodukte bis
zurück ins 19. Jahrhundert digitalisiert hat, nach Artikeln über die
Elisabethkirchstraße. Ich finde [16][einen Bericht über einen großen
Gerichtsprozess], in dem es um die Ermordung des Nachtwächters der
Elisabethkirche geht, der offenbar zwei Diebe ertappt hatte, die ihn
kurzerhand im Garten der Kirche aufgeknüpft haben. Aber die Geschichte
spielt schon im Jahr 1891.

Einmal stoße ich [17][auf der Webseite des Berlin-Mitte-Archivs auf alte
Fotos], die zeigen, dass es einst mehrere Kneipen in der Straße gab, wie
die Löwen-Bier-Schwemme in den 1920er Jahren, den
Engelhardt-Spezial-Ausschank im Jahr 1938 oder eine Niederlassung des
Lauchstädter Heilbrunnens 1950. Aber weiterführend für meine Recherchen ist
das auch nicht.

Einmal meldet sich die Historikerin Alejandra Ciro bei mir, eine
Kolumbianerin, die seit Jahren bei uns im Kiez wohnt – und bei einem
Spaziergang die hölzerne Gedenktafel für Max Anschel entdeckt hat, die ich
vor dem Haus aufgestellt hatte. Ciro hat die Vertreibung und Ermordung
vieler jüdischer Nachbarn im Viertel rund um den Rosenthaler Platz
recherchiert. Darunter neben vielen anderen die Geschichte des
Parfumhändlers Winter, der bis 1938 ein Geschäft an der Brunnenstraße hatte
und der 1942 nach Auschwitz deportiert wurde. Sie hat das alles – bisher
nur auf Spanisch – in [18][einem langen Text für die kolumbianische Zeitung
El Espectador ] veröffentlicht. Man müsste es mal übersetzen.

Die Darstellbarkeit des Holocaust

Einmal besuche ich an einem freien Tag nach langer Zeit mal wieder die Neue
Nationalgalerie am Potsdamer Platz. Dort ist seit 2023 [19][die Ausstellung
„Gerhard Richter. 100 Werke für Berlin“] zu sehen. Ich mag seine Bilder,
die fast fotorealistischen, aber noch mehr diese abstrakten Farbspratzer,
die die Augen öffnen. Ohne groß vorher was über diese spezielle Sammlung zu
lesen, stehe ich schließlich in einem großen Raum. Vier fast deckenhohe
Farbexplosionen auf der rechten, vier gleich große Spiegel auf der linken
Seite. Als Besucher wird man so zum Teil der Kunst. An den schmalen
Stirnseiten hängen neben den Durchgängen vier kleine Fotografien.
Schwarz-Weiß, stark verwischt. Wenn man nichts über sie weiß, erkennt man
eigentlich gar nichts.

Zwei zeigen Menschen vor Rauch. Eins zeigt Bäume, leicht gekippt, darunter
erkennt man, wenn man genau hinschaut, wieder Menschen. Erst wenn man noch
direkter hinsieht, ist zu erkennen, dass sie offenbar nackt sind. Das
vierte Foto ist nahezu pure Abstraktion. [20][Die Bilder wurden offenbar
1944 im KZ Auschwitz aufgenommen und herausgeschmuggelt].

Gerhard Richter ging es bei [21][seinem Birkenau-Zyklus] um die
Darstellbarkeit des Holocaust. Er hat die vier Fotos groß auf Leinwand
gezogen. Mit Farbe übermalt. Wieder und wieder. Bis vom ursprünglichen Bild
nichts mehr zu sehen ist.

Aber ich sehe den Ort, an dem Max Anschel 1944 eingesperrt war, bevor er
weiter nach Stutthof deportiert wurde. Und plötzlich ist Gerhard Richters
Arbeit viel mehr als ein Meisterwerk der Abstraktion. Es betrifft mich ganz
konkret.

Der Panzer an der Kreuzung

Einmal entdecke ich [22][auf Facebook in der Gruppe „Berlin 1945“ das Foto
eines Panzers]. Er steht auf der Invalidenstraße in Berlin-Mitte, auf der
großen Kreuzung bei mir ums Eck, aufgenommen offenbar in den letzten
Kriegstagen. Aber es ist weniger die Nähe zu meinem heutigen Wohnort, die
mich berührt. Sondern die Frage: Haben die Anschels ihn damals gesehen?

Einmal finde ich in den Akten ein Schreiben des Finanzamts Moabit-West an
den Oberfinanzpräsidenten von Berlin, in dem am 14. März 1941 vorgeschlagen
wird, die inländischen Vermögenswerte „der ausgebürgerten Judenleute Adolf
Israel Anschel“, wahrscheinlich der Bruder von Max, ein Guthaben bei der
Deutschen Bank in Höhe von 7.544,03 Reichsmark, als „dem Reich verfallen“
zu erklären, was nicht einmal zwei Monate später mit Schreiben vom 9. Mai
genehmigt wird. Was die jahrelange Dauer der Rückerstattungsverfahren, die
Anna und Ruth Anschel in den Nachkriegsjahren führen mussten, in einem noch
absurderem Licht erscheinen lässt.

Einmal stoße ich [23][im Findbuch des Landesarchivs] auf den Namen Klatt
und lasse mir die Akten heraussuchen, in der Hoffnung, etwas über „P.G.
Klatt“ herauszufinden, der laut Anna Anschel verantwortlich dafür war, dass
ihr Mann ins KZ kam. Aber in diesen Akten geht es nicht um einen Täter,
sondern um weitere Opfer mit gleichem Familiennamen. Da wurde im November
1940 der „Billetabreißer Horst Klatt“ zu einer Gefängnisstrafe von zwei
Monaten verurteilt – wegen „Arbeitsuntreue“. Das Schreiben findet sich auf
einem Mikrofilm, auf dem reihenweise Verfahren wegen Unzucht und belegter
oder vermuteter Homosexualität dokumentiert sind. Ein weitere Horror der
NS-Zeit, der mich aber nicht weiterbringt.

Einmal sehe ich, dass es Anna und Ruth Anschel gut geht. Sie spazieren
durch einen Wald. Aber dann wache ich auf und stelle fest, dass es nur ein
Traum war. Wieder einmal brauche ich eine Pause, Abstand von dieser mir
nahegehenden Geschichte.

Die offenen Fragen

So bleiben auch nach anderthalb Jahren Recherche viele Fragen offen.

Wer war der Verräter P.G. Klatt? Steht P.G., wie ich mittlerweile vermute,
für Parteigenosse? Wurde er, wie es in den Akten an einer Stelle angedeutet
wird, tatsächlich wegen seine NS-Taten verhaftet? Ich habe bei der Stiftung
Brandenburgische Gedenkstätten nachgefragt, die für die Gedenkstätte
Sachsenhausen zuständig ist. Ihr Sprecher Horst Seferens bedauert, dass er
meine Fragen nur unbefriedigend beantworten könne, „da es mehrere
Inhaftierte des Speziallagers gibt, die den Namen Klatt tragen und in
Berlin verhaftet wurden“. Insgesamt sind es vier. Aber auf den ersten Blick
passend erscheint keiner davon.

Wie kam Max Anschel von Schermbeck nach Berlin? Wo hat er als Prokurist
gearbeitet?

Wie haben sich Anna und Max Anschel kennengelernt? Und warum ist sie,
anders als gewünscht, nach dem Krieg nicht in die USA ausgewandert?

Wo hat Ruth Anschel als Ärztin gearbeitet? In Spätschichten, wie es an
einer Stelle heißt? Und vor allem: Ist es wirklich wichtig, das zu wissen?

Was war die Geschichte der ebenfalls ermordeten Cousinen von Max, die Anna
einmal erwähnt hatte?

Was wäre herauszufinden über den in Amsterdam lebenden jüdischen Kaufmann
Sternberg und seine Familie, der das Haus seit mindestens 1930 gehört
hatte? Der um das Jahr 1942 enteignet wurde. Dessen Nachfahren das Haus
erst nach der Jahrtausendwende rückübertragen bekamen.

Wer waren Heinz Hans Geisler und Erwin Thiel, die andern beiden Verfolgten
des Naziregimes, die laut [24][mappingthelives.org] in meinem Haus wohnten,
die ganz am Anfang dieser Recherche standen, zu denen ich aber nichts
gefunden habe?

Wann werden die von mir beantragten Stolpersteine für die Familie Anschel
verlegt? Klappt es wirklich schon im kommenden Jahr, wie mit die lokale
Initiative vor kurzem schrieb?

Eine meiner vielen Fragen aber klärt sich dann doch. Und die Antwort geht
nahe. Näher geht es nicht.

Die Streit mit den neuen Nachbarn von unten

Ich finde sie beim nochmaligen Durchlesen der Papiere aus dem Landesarchiv,
in denen auch die jahrzehntelangen Auseinandersetzungen von Anna Anschel
mit ihren Nachbarn dokumentiert wurde. Dort liegt ein dreiseitiger Brief
von ihr an die Kreisleitung Mitte der Sozialistischen Einheitspartei vom
Juni 1963. Gleich zu Beginn erinnert sie daran, dass ihr Mann „auf Grund
einer Denunzierung von Mietern im KZ Auschwitz vergast wurde. Die Hetze
gegen uns ging aber weiter bis in die jüngste Zeit.“

Dann berichtet sie von einem Streit mit Nachbarn. Als sie und ihre Tochter
ein paar Tage abwesend waren, sei mal wieder die Toilette in ihrer Wohnung
wegen Verstopfung übergelaufen. Die braune Brühe ist dann in die Wohnung
darunter gesuppt. Statt wie üblich das Wasser im Keller abzudrehen, habe
der Herr M., der unter ihr wohne, gleich die Volkspolizei gerufen, um ihre
Wohnung aufbrechen zu lassen.

„Diese Verhalten sowie die Überschwemmung meiner Toilette und des Korridors
löste in mir einen Schock aus, so dass ich anfing auf die Schweinerei zu
schimpfen“, schreibt Anna Anschel. Man kann sie verstehen. Es muss sie an
das Trauma der aufgebrochenen Wohnung in den letzten Kriegstagen erinnert
haben.

Kurz darauf habe Herr M. erneut bei ihr geklingelt und sich beschwert, sie
habe seine Frau beschuldigt, an der Verstopfung schuld zu sein. Der Streit
eskaliert. „Darauf gab mit Herr M. zu verstehen, dass er verschiedenes über
mich gehört habe“, schreibt Anna Anschel weiter – was sie offensichtlich
stark empörte. „Welches Interesse haben die M.'s und was wollen sie
bezwecken, indem sie an diesem Hausklatsch teilnehmen? Was sollen die
Worte, dass er verschiedenes über mich gehört habe?“, fragt Anna Anschel am
Ende des Briefes.

Für Anna Anschel war das offensichtlich die fortgesetzte Form
antisemitischer Hetze – selbst von Menschen, die in der NS-Zeit noch gar
nicht im Haus lebten. Denn M. und seine Frau wohnen erst seit kurzem im
Haus. „Kaum waren M. 1962 in die unter uns liegende Wohnung eingezogen,
ließen sie das Radio laut spielen“, schreibt Anna Anschel in dem Brief.

Und plötzlich wird mir vieles klar.

Ich habe das Ehepaar M. selbst kennengelernt. Es wohnte noch im Haus, als
ich Jahrzehnte später eingezogen bin. Sie ließen nicht mehr das Radio laut
laufen, es war der Fernseher, der in der Wohnung unter uns lärmte. Es war
das alte Paar, das gern am offenen Fenster rauchte, so dass der Rauch eins
höher bei uns in die Wohnung zog. Es war die Geschichte, die der damals
noch ein Stockwerk tiefer wohnende [25][Karikaturist Beck] für eine seiner
Zeichnungen nutzte.

Ich schreibe ihn an, er antwortet prompt: „Klar habe ich den Cartoon noch.
Die Zeichnung ist von 2003 und hat die Ordnungsnummer 42.“

Dann sitze ich da, die Zeichnung auf dem Bildschirm, in der Wohnung, unter
der einst die M.‘s wohnten. Und ich weiß jetzt, dass genau hier auch Anna
Anschel und ihre Tochter Ruth lebten. Und 20 Jahre davor auch ihr Mann Max,
der im KZ Stutthof ermordet wurde.

Die Tapete an der Küchenwand

Bei uns in der Küche hängt an der Wand ein kleiner Tapetenrest. Ein
einfaches bräunliches Blumenmuster auf ockergelbem Grund. Er kam zum
Vorschein, als wir vor vielen Jahren mal die Ikea-Hängeschränke abgenommen
hatten, die unsere unmittelbaren Vormieter dort angebracht haben.

Die Wand drumherum hatten wir neu gestrichen, mehrfach inzwischen. Aber das
Stückchen Blumentapete ließen wir unberührt. Es sah so schön alt aus. Sehr
alt. Ein Stück Geschichte, das man nicht einfach übermalt. Welche
Geschichte damit verbunden ist, wusste ich damals noch nicht.

Wie alt die Tapete tatsächlich ist? Ich habe Astrid Wegener vom
[26][Deutschen Tapetenmuseum in Kassel] gefragt. Die Tapete weise leider
keine eindeutigen stilgeschichtlichen Merkmale auf, antwortet sie umgehend.
Sie könne sich eine Entstehungszeit in den 1950er oder 1960er Jahren
vorstellen. Aber auch eine Herkunft aus früherer Zeit will sie nicht
ausschließen.

Es ist also gut möglich, dass Max, Anna und Ruth Anschel schon vor der
gleichen Tapete gesessen haben wie ich jetzt. Es ist sicher, dass sie mit
dem Kachelofen, der heute noch in einer Ecke des Wohnzimmers verstaubt,
geheizt haben. Die Klinken der alten Zimmertüren in ihren Händen hielten.
Die Dielen im Flur knarren ließen. Das Geländer im Treppenhaus
entlanggingen. In der Nachbarwohnung hat wohl Frau Krause gelebt, die über
das „Judenpack“ hergezogen ist.

Im Nachbarhaus lebten der P.G. Klatt und seine Frau, der mit seiner Anzeige
die Deportation einleitete.

Über den Hof blicke ich auf die Rückseite der Brunnenstraße 169. Das Haus,
unter dem der Luftschutzkeller war.

Und es ist klar, dass ich genau deshalb diese Geschichte aufschreiben muss.
Die Geschichte meiner Vormieter. Damit sie nicht vergessen bleibt.

„Nur aus Liebe zu meinem Mann konnte ich ja all das Leid und die
Entbehrungen ertragen“, schreibt Anna Anschel an einer Stelle. „Ich habe
gekämpft gegen das Nazitum, wo ich nur konnte.“

.......

Die Geschichte von Max Anschel und seiner Familie hat taz-Redakteur Gereon
Asmuth in einer sechsteiligen Serie aufgeschrieben. Alle Texte finden Sie
unter [27][taz.de/maxanschel]. 

Teil 1: [28][Mein Vormieter Max Anschel, ermordet im KZ Stutthof 1944] 

Teil 2: [29][Vier Tage und ein halbes Brot – Das KZ Stutthof, in dem Max
Anschel starb, galt unter Häftlingen als schlimmstes Lager.] 

Teil 3: [30][Die gnadenlose Kirche gegenüber – Die jüdisch-katholische
Famlie Anschel lebte direkt gegenüber einer NS-dominierten Kirche.] 

Teil 4: [31][Der Riss in der Tür – Ein Mordversuch, ein Einbruch, eine
zertrümmerte Tür: Auf den Spuren meiner Vormieterin Anna Anschel] 

Teil 5: [32][„Mutti, ich habe eine sehr, sehr grosse Bitte an Dich!“ – Die
Geschichte der Tochter Ruth Anschel]

15 Nov 2024

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[4] https://de.wikipedia.org/wiki/Luftschutz#Sonstiges
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[6] https://de.wikipedia.org/wiki/Bernhard_Gelderblom
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[8] http://www.gelderblom-hameln.de/start/presse/zwangsarbeit.php?name=zwangsarbeit#Kwaskiewicz
[9] https://www.berlin.de/ba-charlottenburg-wilmersdorf/ueber-den-bezirk/geschichte/artikel.240430.php
[10] https://www.statistik-des-holocaust.de/list_ger_mid_43a.html
[11] https://www.statistik-des-holocaust.de/OT49-1.jpg
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## AUTOREN
Gereon Asmuth
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