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Die letzten Meter zum großen Geld sind erstaunlich unspektakulär. An einem
Vormittag im Dezember tritt Lutz Trabalski durch die Glastür im Erdgeschoss
der Lotto-Zentrale in Berlin-Wilmersdorf, ein leutseliger großer Mann mit
festem Händedruck. Er bittet herein, Gäste dürfen nicht alleine ins Haus.
Trabalskis Gäste, das sind regelmäßig auch Menschen, die gerade im Lotto
gewonnen haben. Drinnen empfängt ein luftiges Treppenhaus im
50er-Jahre-Stil. Um die Stimmung aufzulockern, weise er die Gewinnerinnen
und Gewinner gerne auf die Fossilien hin, die in den Marmorstufen
eingeschlossen seien, erzählt er beim Hinaufgehen. Im ersten Stock hat Lutz
Trabalski sein Büro. Grauer Teppichboden, Schreibtisch, Kalender an der
Wand – der Raum ist eingerichtet wie eine Amtsstube. Am ovalen
Besprechungstisch bittet er zum Gespräch.
taz: Herr Trabalski, neues Jahr, neues Glück?
Lutz Trabalski: Auf jeden Fall. Wobei das nicht nur für den Jahreswechsel
gilt, sondern für jede Ziehung.
Spielen Sie selbst Lotto?
Selbstverständlich. Ich habe einen Lottotipp mit vier Tippreihen, einen
Eurojackpot-Tipp und mehrere Tippgemeinschaften mit Kollegen aus dem Haus.
Da können wir uns dann drüber unterhalten, wenn wir wieder dicht daneben
lagen. Einmal haben wir zu viert 1.000 Euro gewonnen.
Man muss leider sagen: Geld für Lotto auszugeben ist ziemlich unvernünftig.
Die Wahrscheinlichkeit auf den Hauptgewinn, also auf einen Sechser mit
Superzahl, beträgt nur 1 zu 140 Millionen.
Ja, wer auf Wahrscheinlichkeiten steht, der sollte nicht Lotto spielen. Es
ist total unwahrscheinlich zu gewinnen. Aber nichtsdestotrotz passiert es.
Wir haben bundesweit fast jede Woche jemanden, der sechs Richtige und die
Superzahl knackt und Millionär wird. Es ist eben ein Glücksspiel. Und es
geht ja auch nicht nur ums Geld. So eine Spielquittung ist eine
Eintrittskarte fürs Traumkino. Das beflügelt die Fantasie. Die Leute malen
sich aus, was sie mit dem Geld machen könnten. Schon die Vorstellung, keine
Verpflichtungen mehr zu haben, kann wohltuend sein.
Bei Einzelnen wird die Fantasie zur Wirklichkeit. Seit 20 Jahren beraten
Sie Gewinnerinnen und Gewinner in Berlin. Wie viele Lotto-Millionäre saßen
schon an diesem Tisch?
Früher war ich in einem anderen, sehr schmalen Büro. Allein hier in diesem
Raum, auf diesem Stuhl saßen wahrscheinlich schon 70 oder 80 Gewinner, die
ich beraten habe.
Sie haben einen ziemlich originellen Job …
Ich wurde mal gefragt, womit sich meine Tätigkeit am ehesten vergleichen
lässt. Ich habe gesagt, dass ist ein bisschen wie auf einer
Entbindungsstation. Ich komme durch die Tür, gratuliere den Menschen und
sage ihnen, wie viel sie gewonnen haben. Ich bringe sozusagen Millionäre
zur Welt. Mit dem Vorteil, dass bei mir weniger schiefgehen kann als bei
einer echten Geburt.
Wie reagieren die Leute?
Ganz unterschiedlich. Manche sind total euphorisiert. Einer wollte sofort
Sekt und Schnittchen, das gibt es bei uns natürlich nicht. Hier ist erst
mal kühler Kopf gefragt, die Party einläuten können die Leute hinterher.
Andere bringen kein Wort heraus.
Im November hat jemand aus Berlin den [1][Eurojackpot mit 120 Millionen
Euro] geknackt. Das war der höchste Gewinn, den es je in Deutschland gab.
Wie hat dieser Mensch reagiert?
Sehr introvertiert. Man hat gesehen, dass die hohe Summe auch eine Last
ist. Die Person hat sich nicht wohlgefühlt, sie hat nichts von sich
preisgegeben. Ich hatte den Eindruck, die Person dachte, dass überall Leute
lauern könnten, die es auf das Geld abgesehen haben.
Mit dem Gewinn kam gleich auch die Angst?
Ich denke ja, deshalb hat die Person wenig gesagt. Es passiert aber auch
oft, dass mir die Gewinner sehr viel von sich erzählen. Ich bin ja in einem
entscheidenden Moment ihres Lebens bei ihnen und habe ein offenes Ohr. Das
längste Gespräch hat fast acht Stunden gedauert.
Was erfahren Sie bei so einem Treffen?
Eine Frau hat mir gesagt: „Es ist das erste Mal in meinem Leben, dass ich
Glück habe.“ Sie hatte ihr Kind verloren, das war eine ganz tragische
Geschichte. Damals gab es viele Brandmauern in Berlin, an denen waren
häufig die Teppichklopfstangen angebracht. Das Kind turnte an einer dieser
Stangen, da hat sich wohl ein Stein aus der Mauer gelöst. Die Frau schaute
aus dem Fenster und musste zusehen, wie die Mauer zusammenbrach und ihr
Kind unter sich begrub. Das hat mich so berührt, ich kriege jetzt noch eine
Gänsehaut, wenn ich davon erzähle. Diese Frau hat mich auch sonst
beeindruckt, weil sie so geerdet wirkte.
Inwiefern?
Ich frage die Leute immer: Was machen Sie als nächstes mit dem Geld, wenn
Sie dieses Haus verlassen? Ich rate ihnen, sich etwas zu gönnen, damit sie
den Besuch hier mit etwas Schönem verbinden. Es gibt Männer, die kaufen
sich gleich eine teure Uhr, der Ku’damm ist ja um die Ecke. Frauen haben es
eher mit Schuhen und Handtaschen. Das klingt wie ein Klischee, aber ich
erlebe es so. Diese Dame jedenfalls sagte: Sie geht jetzt in den Supermarkt
und kauft sich unverpackte Wurst. [2][Ein guter Serranoschinken], eine
Mailänder Salami, das war für sie offenbar der Inbegriff von Luxus. Ganz am
Ende unseres Gesprächs hat sie mir noch einmal mit großem Nachdruck gesagt:
„Herr Trabalski, ich kaufe mir nie wieder verpackte Wurst. Nie wieder!“
Sie raten den Gewinnern nicht nur, sich etwas zu gönnen. Vor allem raten
Sie ihnen, kaum jemandem von dem Gewinn zu erzählen. Weil sonst alle kommen
und Geld wollen?
Ja. Man hat schnell falsche Freunde. Man weiß nicht mehr, ob jemand nett
ist, weil er Geld möchte, oder weil er einen wirklich mag. Menschen sind
neidisch auf diesen Gewinn. Und aus dieser neidischen Grundhaltung leiten
sie dann ab, dass sie doch auch etwas von dieser großen Summe abbekommen
sollten. Das soziale Gefüge verändert sich sofort.
Plötzlich gibt es eine Hierarchie in den sozialen Beziehungen?
Das trifft es sehr gut. Der Gewinner ist viel reicher als die anderen. Die
Leute denken dann: Er ist keiner mehr von uns. Einmal war ein älterer Herr
hier bei mir, an dem spiegelte sich das ganz deutlich. Er ist ein Mal in
der Woche zur Volkssolidarität gegangen zum Kartenspielen. Während des
Gesprächs merkte ich, wie er immer unglücklicher wurde. Er fragte: „Herr
Trabalski, kann ich denn jetzt noch zur Volkssolidarität? Ich bin doch
jetzt reich, das ist doch für arme Leute.“ Er fühlte sich nicht mehr
zugehörig. Es hat eine Weile gedauert, bis ich ihn davon überzeugt hatte,
weiter hinzugehen, und dass er ja anonym was für die Volkssolidarität
spenden kann, wenn er das möchte.
Das klingt, als wäre man als Gewinner plötzlich ziemlich einsam.
Ja. Dieser Herr war wahrscheinlich sowieso schon einsam, und jetzt noch
mehr.
Nichts zu sagen kann verhindern, dass man als reich gilt. Aber auch
Schweigen verändert Beziehungen. Für enge Freunde oder Verwandte ist es ein
Vertrauensbruch, wenn man von einem solchen Ereignis im Leben nichts
erzählt.
Absolut. Aus der Nummer kommt man nicht raus. Sagt man was, wird es
schwierig. Sagt man nichts, auch. Man hat ein schlechtes Gewissen, weil man
sonst immer offen war, aber in dem Punkt nicht. Die Leute wissen deshalb
oft nicht, wie eng sie den Kreis ziehen sollen. Wir raten: Je enger, desto
besser. In der Partnerschaft ist es sicher schwierig, so etwas zu
verheimlichen. Aber für alle anderen sollte man sich eine Legende
zurechtlegen, dass man zu etwas Geld gekommen ist, beispielsweise durch
eine Erbschaft, und sich deshalb mehr leisten kann. Selbst bei den eigenen
Kindern raten wir, besser nichts zu sagen.
Ist das bei älteren Kindern nicht übertrieben?
Wenn ich meiner Tochter mit 16 oder 17 erzählt hätte, wir sind jetzt
Millionäre, hätte sie gefragt: „Papa, warum muss ich jetzt eigentlich noch
was lernen?“ Sie hatte zu der Zeit Stress in der Schule. Es besteht schon
die Gefahr, dass man das Lebensziel aus den Augen verliert, dass plötzlich
der Antrieb fehlt, weil man sich darauf verlässt: Das Geld wird es schon
regeln.
Gilt das nicht auch für Erwachsene? Mit mehreren Millionen könnte man auf
der Stelle aufhören zu arbeiten.
Davon raten wir dringend ab. Man vergisst leicht, dass man sehr viele
soziale Beziehungen über die Arbeit generiert oder pflegt. Wenn man aufhört
zu arbeiten, bricht das alles weg. Man entwurzelt sich. Es ist deshalb
wichtig, eine Strategie zu entwickeln. Vielleicht will man mit weniger
Druck in Teilzeit arbeiten? Oder eine Auszeit nehmen und später wieder
einsteigen? Das muss man sich gut überlegen. Man bekommt auch viel
Bestätigung über die Arbeit, wenn das wegfällt, sollte man wissen, wie man
es kompensiert.
Einsamkeit, Antriebslosigkeit, Entwurzelung. Je länger ich Ihnen zuhöre,
desto mehr habe ich den Eindruck: Es ist gar kein Glück, im Lotto zu
gewinnen.
Mit Geld kann man viele Probleme lösen, aber man bekommt auch andere, die
man vorher nicht hatte. Es gibt Menschen, die bewahren die Ruhe, die
bleiben geerdet, die können damit umgehen, anderen fällt das schwerer. Ich
würde schon sagen: Wer im Lotto gewinnt, hat großes Glück gehabt. Aber aus
diesem Ereignis einen Zustand zu machen, glücklich zu sein, das ist die
große Kunst.
Wäre es nicht bekömmlicher für alle Beteiligten, wenn kleinere Summen
vergeben würden, also 20 Mal eine halbe Million Euro statt ein Mal 10
Millionen? Dann würden die Menschen auch ihren Job nicht gleich aufgeben.
Vor dem Hintergrund, dass große Summen überfordern können, ist das völlig
korrekt. Wir merken allerdings, dass die Leute bei kleineren Jackpots nicht
spielen. Bei der Lotterie Eurojackpot gibt es immer 10 Millionen in der
Gewinnklasse 1, das interessiert keinen mehr. Viele steigen erst ein, wenn
mehr drin ist. In den USA und Spanien gibt es inzwischen Gewinne in
Milliardenhöhe. Diese Entwicklung hin zu immer mehr Geld können wir nicht
verhindern. Wenn wir in einem isolierten Markt wären, wäre das kein
Problem, dann könnten wir den Gewinn deckeln. So müssen wir für den legalen
Glücksspielmarkt ein Angebot liefern, sonst driften die Leute ab zu
[3][illegalen Lotterien im Internet]. Wenn es ein legales Angebot gibt,
dann ist es einfacher, den „Spieltrieb der Bevölkerung zu kanalisieren“,
wie es im Glücksspielvertrag so schön heißt.
Der Staat verdient beim Lotto mit. 50 Prozent der Einnahmen werden an die
Gewinnerinnen und Gewinner ausgeschüttet, 40 Prozent gehen an den Staat
oder an die Lottostiftung für gemeinnützige Zwecke. Der Staat plant mit
diesen Geldern aus dem Glücksspiel. Ist das nicht fragwürdig?
Jein, würde ich sagen, eben weil die Leute spielen wollen. Es gibt einen
Bedarf dafür, und wir machen das legale Angebot dazu. Wenn ein Teil in
gemeinnützige Zwecke fließt, ist das doch gut.
Studien zufolge spielen vor allem Menschen mit geringerem Einkommen Lotto,
auch Menschen ohne höheren Bildungsabschluss. Hoffen die Leute mit dem
großen Los auf den sozialen Aufstieg?
Das kann sein. Früher war Roulette das Glücksspiel der Reichen, Lotto das
Glücksspiel der kleinen Leute. Heute gibt es die Grenzen so nicht mehr.
Aber klar, unsere Klientel ist eher normal, hat Familie, geht arbeiten.
Viele Ältere spielen Lotto. Deshalb bekommen wir auch den demografischen
Wandel so deutlich zu spüren. Unsere Lotto-Abonnements enden häufig, weil
die Leute sterben.
Ein Teil der Gelder aus der Lottostiftung fließt in die Kultur, etwa in
Theaterprojekte oder Kunsthallen. Kritiker sagen, das sei eine
Umverteilung von unten nach oben. Da das Geld von ärmeren Leuten kommt,
sollte man besser Projekte für Chancengleichheit finanzieren.
Den Einwand kennen wir. Die Stiftung ist deshalb schon immer breit
aufgestellt, wir fördern zum Beispiel auch den Breitensport oder Projekte
im öffentlichen Raum, die jeder mitbekommen kann, wie die kilometerlange
Lichtinstallation zum Jubiläum des Mauerfalls. Zweifelsohne hat die Kultur
ihren Platz in unserer Gesellschaft. Ich kann aber gut nachvollziehen, wenn
jemand sagt, man sollte stärker soziale Projekte finanzieren und nicht die
nächste Kunstausstellung, von der der eine oder andere vielleicht gar
nichts mitkriegt. Letztendlich entscheidet der Stiftungsrat über die
Verteilung der Gelder.
Sie haben regelmäßig mit Leuten zu tun, die das große Los gezogen haben.
Hat das Ihren Blick auf Glück verändert?
Ich habe im Laufe der Jahre viel darüber nachgedacht, welchen Stellenwert
Geld hat. Dieser alte Spruch, Gesundheit sei das Allerwichtigste, das ist
keine Floskel. Das habe ich hier mehrfach erlebt. Ein Gewinner war bei mir,
der hatte eine schwerkranke Frau. Er sagte, er würde alles zurückgeben,
wenn seine Frau nur wieder gesund würde. Da kamen selbst mir die Tränen. Es
ist schön, wenn man Geld hat und man sich viel ermöglichen kann. Aber
Zuneigung, Empathie und eben auch Gesundheit, das ist wichtiger.
Was war Ihr größtes Glück im Leben?
Ohne Zweifel die Geburt meiner Tochter. Dass ich meine Frau kennengelernt
habe und wir eine Familie gründen konnten. Das ist für mich das größte
Glück, und das hätte ich mir auch mit viel Geld nicht kaufen können.
Und wenn Sie nun doch noch im Lotto gewinnen?
Dann muss ich mich selbst beraten … Im Ernst: Es wäre spannend zu wissen,
ob ich die Ratschläge befolgen würde, die ich den Menschen gebe. Ich würde
sicherlich Ruhe bewahren und mir gut überlegen, was ich mit dem Geld mache.
Einen Teil würde ich spenden, an Obdachlosenprojekte oder die Arche, die
mit Kindern und Jugendlichen arbeitet. Aber wem würde ich davon erzählen?
Da wird es schon schwierig, man möchte diese Freude ja mitteilen.
Und was würden Sie sich kaufen?
Ich bin in einer klassischen Berliner Mietskaserne aufgewachsen, mit hohen
Häusern und engen Höfen. Wir haben im siebten Stock gewohnt, zum Spielen
gab es nur den Spielplatz. Es klingt total spießig, aber so ein eigenes
Häuschen mit Garten, das war immer mein Traum. Das wäre schon was.
31 Dec 2022
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