| # taz.de -- Jüdische Stimmen nach Demonstrationen: Wie sicher sind wir wirklich?
> Die islamistischen Demonstrationen in Essen und Düsseldorf lösen
> Entsetzen aus. Wie eine Jüdin und ein Jude versuchen, damit umzugehen.
Düsseldorf taz | Der Tag, an dem rund 3.000 Islamisten und ihre Anhänger
durch die Essener Innenstadt zogen, wird später bundesweit Bestürzung
auslösen. Dort schwenkten Islamisten am vergangenen Freitag das Schwarze
Banner, eine Flagge, auf der die sogenannte Schahada, das islamische
Glaubensbekenntnis prangt, und das der sogenannte Islamische Staat,
al-Qaida und die Taliban nutzen. Sie forderten ein islamistisches Kalifat.
Sie liefen getrennt, Frauen und Kinder am Ende des Zugs.
Als Vizekanzler Robert Habeck zwei Tage zuvor eine [1][viel gelobte
Videoansprache] veröffentlichte, benannte er so deutlich Antisemitismus in
Deutschland, wie es schon lange kein Politiker getan hatte. Er sei
gewachsen, der Antisemitismus, sagte er, bei [2][Islamisten,
Rechtsextremen, aber auch „in Teilen der politischen Linken“]. Und Habeck
stellte sich an die Seite Israels.
Viele Jüdinnen und Juden in diesem Land stellten sich daraufhin eine Frage,
die seit dem bestialischen Massaker der Hamas-Terroristen an Zivilisten am
7. Oktober immer wieder in der jüdischen Community gestellt wird: Dass die
Politik klare Worte finde, das sei ja schön. Aber: Wie sicher sind wir
wirklich?
## Die Shoa durch Zufälle überlebt
Am 4. November, einen Tag nach der islamistischen Demonstration in Essen,
werden in Düsseldorf salafistische Influencer und solche, die ihnen
nahestehen, einen Demozug für „Menschlichkeit“ im „Konflikt zwischen Israel
und Palästina“ anführen. Der [3][Terror der Hamas wird dort verharmlost
werden], es wird die Shoa relativierende Plakate und Parolen geben. Auch
in anderen deutschen Städten werden sich Tausende versammeln.
Zwei Stunden zuvor sitzt Herbert Rubinstein auf einem gepolsterten Stuhl in
seiner Düsseldorfer Wohnung, neben ihm, auf dem Sofa, seine Frau Ruth.
Rubinstein, 87, hat die Shoa nur durch Zufälle überlebt.
1936 wurde er in Czernowitz, der heutigen Ukraine geboren. Seine Kindheit
verbrachte er ab 1941 zwangsweise im Ghetto. Rubinsteins Vater wurde von
den Sowjets zwangsrekrutiert und später erschossen. Mit falschen Papieren
umgingen Rubinstein, seine Mutter und sein Großvater die Deportation ins
Konzentrationslager.
Rubinstein ist ein ruhiger Mann, der mit Bedacht redet. Er strahlt eine
Professionalität aus, wenn er über die Vergangenheit spricht und die
Gegenwart analysiert – und wird weich, lächelt, wenn er erzählt, dass der
glücklichste Moment in seinem Leben der war, als er die beste Frau der Welt
bekommen habe, seine Ruthi.
## Breite gesellschaftliche Verurteilung bleibt aus
1956 zieht Rubinstein mit seiner Mutter und seinem Stiefvater Max Rubin,
einem Auschwitz-Überlebenden, in dessen alte Heimat, nach Düsseldorf.
Rubinstein hat als junger Mann mit anderen jüdischen Jugendlichen aus
Düsseldorf und Essen begonnen, Jugendgruppen aufzubauen, die die Deutschen
ausgelöscht hatten. „Wir werden den Nazis nicht den Sieg überlassen, dass
es kein jüdisches Leben mehr in Deutschland gibt“, sagt er sich damals.
Rubinstein ist einer, der in seinem Leben stets die Balance gehalten hat
zwischen Offenheit nach außen, dem Dialog, einem Miteinander in der
Stadtgesellschaft, mit der Politik und religiösen Gruppen auf der einen und
der Stärkung der eigenen jüdischen Strukturen auf der anderen Seite.
Ist es nach dem 7. Oktober noch möglich, Dialog zu halten, wenn auf
Deutschlands Straßen zum [4][Hass gegen Juden] aufgerufen wird? Wenn die
breite gesellschaftliche Verurteilung des Hamas-Terrors ausbleibt?
Rubinstein sagt: „Ich finde diese radikalen Demonstrationen auf den Straßen
Europas furchtbar. Sie richten sich gegen die Allgemeinheit, nicht nur
gegen Juden.“ Er betont, dass es aber auch Momente der Verbundenheit gebe.
Kleine, aber doch da.
## Vielleicht war es Wunschdenken
Am Abend zuvor hätten sich Vertreter der großen Religionsgemeinschaften –
Christen, Juden und Muslime – zu einem interreligiösen Friedensgebet vor
dem Düsseldorfer Rathaus versammelt. Natürlich seien da nur gemäßigte dabei
gewesen, sagt Rubinstein. Keine Radikalen.
Wie sicher fühlt er sich, wenn knappe zehn Autominuten von seiner Wohnung
entfernt diese Radikalen aber in Massen demonstrieren werden? „Ich fühle
mich hier nicht unsicher, aber ich fühle mich nicht mehr sicher“, sagt
Rubinstein.
Das habe bereits 1972 angefangen, mit dem Attentat in München, bei dem
palästinensische Terroristen ein [5][Massaker an israelischen
Olympia-Teilnehmern] anrichteten. Von diesem Tag an habe er sich immer
wieder eingeredet: „Es wird doch nicht so schlimm kommen. Die Menschen sind
doch vernünftig. Man will doch ein Miteinander, ein vereintes Europa. Und
die Welt verbessern.“ Aber vielleicht, sagt er, war das auch Wunschdenken.
Rubinstein spricht von Türen, die weit offen waren, und meint damit die
jüdische Gemeinde. Zwar habe man nach dem Olympia-Attentat die
Sicherheitsvorkehrungen angepasst, sich aber nie verschanzt. Rubinstein,
die jüdische Gemeinde, lebte weiter – immer in dem Bewusstsein, dass der
Judenhass im Nachkriegsdeutschland weiter existierte.
## „Wir Juden sind ein Volk der Wunder“
Die jüdische Gemeinschaft der Stadt Düsseldorf ließ sich auch dann nicht
zurückdrängen, als Salafisten bis 2016 in Nordrhein-Westfalen bei
öffentlichen Auftritten ganze Plätze füllten, dann griff das
Bundesinnenministerium durch.
Nun, vier Wochen nach dem 7. Oktober, spricht Rubinstein zum ersten Mal von
geschlossenen Türen jüdischer Gemeinden. Eine Reaktion auf die Welle
antisemitischer Gewalt und Hetze. Trotz dieses Rückschritts verharrt
Rubinstein nicht im Pessimismus, er sucht nach Lösungen. „Bildung, Bildung,
Bildung, mit drei Ausrufezeichen. [6][Und die Parolen der AfD, die müssen
demaskiert werden]“, sagt er.
Rubinstein spricht von Gesprächen, die nun geführt werden müssen, mit
denen, die sich noch nicht radikalisiert haben. Er wünsche sich, dass man
Wege miteinander gehe und nicht gegeneinander arbeite. „Wir Juden sind ein
Volk der Wunder. Ich glaube fest daran, dass wir diese schwere Zeit
überstehen werden. Wir werden die Türen wieder weit öffnen. Aber wir
brauchen Zeit.“
Am selben Tag, einige Stunden später. An einem langen, weißen Esstisch
sitzt Nicole Pastuhoff, 23, hinter ihr, auf der Fensterbank, rosafarbene
Orchideen und eine goldene Menora. Pastuhoff ist Studentin und Präsidentin
des Jüdischen Studierendenverbands Nordrhein-Westfalens. Anders als Herbert
Rubinstein wirkt sie resignierter, enttäuschter.
## Alleingelassen, nutzlos und verloren
In den vergangenen vier Wochen hat Pastuhoff viele Reden auf Kundgebungen
gehalten. Jede einzelne hat sie versucht mit etwas Positivem zu beenden.
Sie habe gespürt, dass sie den Anwesenden in diesen schweren Zeiten Mut
zusprechen müsse, sagt sie. Hinterher hätten sich viele bei ihr bedankt,
für ihre stärkenden Worte. Doch von Mal zu Mal fragte sich Pastuhoff:
Glaube ich selbst an das, was ich da erzähle?
Als ein Mob den Flughafen in Machatschkala stürmt, in der russischen
Teilrepublik Dagestan, als dieser Jagd auf ankommende Juden eines Flugs aus
Tel Aviv macht, bricht Pastuhoff in ihrer Wohnung zusammen, weint, so
erzählt sie es.
Sie habe sich [7][alleingelassen, nutzlos und verloren] gefühlt. Sie denkt:
„Es macht keinen Sinn: egal wie viel ich rede, egal wie viel wir
organisieren, es schürt nur noch mehr Hass, macht es noch unbequemer für
uns.“ In ihr macht sich ein Gefühl der Perspektivlosigkeit breit.
Pastuhoffs Familie stammt aus der Ukraine und Moldau. Ihre Mutter wuchs in
der Sowjetunion mit dem Bewusstsein auf, ihr Judentum verstecken zu müssen.
Um nicht aufzufallen, wurde sie getauft. Pastuhoff verstand nie, warum ihre
Mutter verdrängte, dass sie jüdisch ist. Das sei nach den Bildern aus
Russland anders, sagt sie. Zum ersten Mal habe sie die Angst ihrer Mutter
und Großeltern verstanden.
## Sie kann nicht frei sprechen
Pastuhoff ist in Düsseldorf geboren. Sie hat diese Stadt bislang als ihr
Zuhause empfunden, bis jetzt. Antisemitismus, der war für sie zwar schon
immer alltäglich. Aber jetzt habe er „krasse Dimensionen“ angenommen.
Seit dem 7. Oktober fühlt sich Pastuhoff unsicher, sagt sie. Auf der Straße
dreht sie sich ständig um. Wenn sie jetzt in der Bahn Gespräche führt,
nennt sie keine israelischen Städtenamen mehr; sie verzichtet auf die
Wörter Antisemitismus, Palästina, Gaza und Hamas – aus Angst.
Wenn sie eine jüdische Person anruft, dann schickt Pastuhoff voraus: Ich
bin in der Bahn. Damit der andere wisse: Sie kann jetzt nicht frei
sprechen. Bei fremden Nummern, die sie anrufen, nennt sie niemals zuerst
ihren Namen, sondern wartet darauf, dass sich der andere vorstellt – man
wisse ja nie, wer anruft.
Manchmal fragt sie sich, ob ihre Angst tatsächlich berechtigt ist, oder ob
sie übertreibt. Sie fragt sich, ob das alles nur in ihrem Kopf sei? Dann
wieder wird ihr bewusst: Die Realität ist ja wirklich schlimm.
## „Allahu Akbar“-Rufe schallen herüber
Burgplatz am Rheinufer in Düsseldorf, später am Abend. Nicole Pastuhoff und
Herbert Rubinstein sind gekommen, um Kerzen anzuzünden. 1.400, für die von
der Hamas ermordeten israelischen Zivilisten.
Eine Mahnwache, die auf Initiative der FDP stattfindet. Marie-Agnes
Strack-Zimmermann, Vorsitzende des Verteidigungsausschusses des Bundestages
ist gekommen, die Bürgermeister der Stadt, Stephan Keller und Josef Hinkel,
Vertreter und Mitglieder der Jüdischen Gemeinde, und andere, die sich
solidarisch zeigen wollen.
Am Straßenrand: Polizeischutz. Eine Viertelstunde Fußmarsch entfernt findet
die Abschlusskundgebung der propalästinensischen Demonstration mit 17.000
Teilnehmern statt. „Free Palestine“- und „Allahu Akbar“- Rufe schallen
immer wieder herüber. Zur Mahnwache am Burgplatz sollen knapp 300 Menschen
gekommen sein, wird es später heißen.
Herbert Rubinstein, Nicole Pastuhoff und ein weiterer junger Jude stehen in
einem Halbkreis zusammen. Die drei kennen sich. Die Jungen befragen den
Älteren Rubinstein: Wie geht es weiter für uns Juden? Wie sollen wir
weiterleben?
## „Vergesst nicht zu leben“
Rubinstein: Ihr jungen Menschen hättet nicht gedacht, dass so etwas wie am
7. Oktober möglich ist. Ich weiß, dass es möglich ist. Die Hölle hat im
Nationalsozialismus angefangen. Ganz ist sie nie verschwunden.
Die Jungen: Gerade ist es trotz allem doch sicherer in Israel als anderswo
auf der Welt, oder?
Rubinstein: Zurzeit ist Vorsicht geboten. Ob wir uns aber verstecken, ist
unsere Entscheidung. Ich trage meinen Anstecker mit Israelfahne ohne Angst.
Ich bin bereit, die Gefahr einzugehen.
Vergesst nicht zu leben, sagt Rubinstein noch. Er lächelt. Später am Abend
wird das Kaddisch gesprochen, ein Gebet, das der Ermordeten gedenkt. Die
Kerzen brennen weiter. In den Straßen Düsseldorfs werden noch viele Stunden
Palästinaflaggen geschwenkt.
8 Nov 2023
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