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Berlin taz | Am Sonntag ist es genau ein Jahr her: Damals [1][raste ein
BMW-Fahrer] über die Charlottenburger Kantstraße in Richtung Westen, wich
einem anderen Fahrzeug aus, kam ins Schlingern und überfuhr einen
64-jährigen Radfahrer auf der Busspur. Der Mann starb kurz darauf im
Krankenhaus. Er war der vierte von insgesamt 15 Radfahrenden, die im
vergangenen Jahr von einem Lkw, Pkw oder Bus tödlich verletzt wurden.
Rad-AktivistInnen hatten die Kantstraße schon lange als höchst
problematisch identifiziert, aber der Unfall und die darauffolgenden
Proteste beschleunigten das Behördenhandeln entscheidend: Seit Ende Juni
verläuft auf voller Länge von Kantstraße und Neuer Kantstraße [2][eine
geschützte „Pop-up“-Fahrradspur]. Ein gutes halbes Jahr später fällt die
Bilanz der Radlobby hervorragend aus – wie schnell es mit der geplanten
„Verstetigung“ klappt, ist aber weiterhin unklar. Derweil sind die
temporären Markierungen zum Teil schon stark verblasst.
„Man fühlt sich wohl, sicher und geschützt“, sagt Aktivist Heinrich
Strößenreuther, der im Frühjahr zu wöchentlichen Demos mobilisiert hatte.
Die Kantstraße sei „in der Summe wesentlich ruhiger“, ja viel mehr zur
Ausgehstraße geworden, was an der Beruhigung des Verkehrs liege: „Die
Abgase sind zurückgegangen, und es kann keine illegalen Autorennen mehr
geben, da ja nur noch eine Spur vorhanden ist.“
Tatsächlich bringt die Pop-up-Bikelane Ordnung in eine Straße, auf der es
bislang ziemlich anarchisch zuging: Von zwei Kfz-Spuren wurde auf der
rechten immer wieder illegal geparkt, was RadlerInnen zu gefährlichen
Spurwechseln zwang.
Schlugen im Sommer die Wellen noch hoch – die FDP sah das Ende des
Einzelhandels besiegelt und SPD-Fraktionschef Raed Saleh behauptete,
„Anwohner, Rad-, Bus- und Autofahrer“ lehnten die Lösung ab –, hat sich das
neue Normal mittlerweile etabliert und dabei für deutlich mehr Radverkehr
gesorgt. Das Aufkommen habe sich vervierfacht, schätzt Strößenreuther,
außerdem seien viel mehr Frauen auf dem Rad unterwegs: „Von vorher
vielleicht 5 bis 10 Prozent ist das gefühlt auf über 60 Prozent
angewachsen.“
Verstetigt, also dauerhaft angelegt werden sollte die Radspur ohne größere
Veränderungen, findet Strößenreuther. Nur im westlichen Abschnitt – ab der
Wilmersdorfer Straße – seien Radelnde noch nicht vom Fließverkehr
geschützt: „Das bedürfte einer langwierigeren Lösung.“ Dort wird nicht
parallel, sondern senkrecht zur Fahrbahn auf dem Gehwegbereich geparkt, was
zur Folge hat, dass Autos beim Parken oder Ausparken die Radspur kreuzen.
Auf dem östlichen Abschnitt verläuft die Radspur dagegen jetzt geschützt
zwischen Gehweg und Pkw-Parkspur.
## Man ist „im Gespräch“
Bis Ende April hat die Senatsverkehrsverwaltung die vorläufige Anordnung
der Radspur verlängert. Kommt dann sofort die dauerhafte Anordnung? Oder
sinnvollerweise sogar schon früher? Im Hause der Verkehrssenatorin sieht
man alles auf gutem Wege: „Wir sind im Gespräch mit dem Bezirk“, so der
Sprecher von Regine Günther (Grüne). Die Umsetzung der verstetigten Spur
liege in der Zuständigkeit des Bezirks, man erwarte aber von diesem
„ausschließlich die Planungsleistungen, die nach Zuständigkeitsverteilung
zu erwarten sind“.
Spricht man mit dem zuständigen – ebenfalls grünen – Bezirksstadtrat Oliver
Schruoffeneger, klingt das schon länger nicht ganz so reibungslos. Auch
jetzt hake es massiv, weil die Feuerwehr Probleme bei den
Zufahrtsmöglichkeiten moniere, so Schruoffeneger zur taz. „Wir haben die
Senatsverwaltung gebeten, zu klären, wie damit umzugehen ist. Man hat uns
zurückgemailt, wir sollten doch ermitteln, wie breit die Feuerwehrwagen
sind. Das ist nun wirklich nicht unsere Zuständigkeit.“
Der Stadtrat bestätigt, dass Gesprächsrunden mit der Senatsverwaltung
stattfinden, allerdings nicht auf regelmäßiger Basis. Auf die Frage, wie es
jetzt weitergehen solle, antwortet er kurz und bündig: „Die müssen das
Problem mit der Feuerwehr lösen – und dann anordnen.“
Was die verblassten Markierungen angeht, verweist das Bezirksamt auf die
begrenzte Haltbarkeit von Materalien, die nicht für den dauerhaften Einsatz
gedacht sind. Ausbesserungen stünden auch an, das feuchte und kalte Wetter
sei dafür aber eigentlich ungeeignet. Möglicherweise werde man die Firmen
aber bitten, die suboptimale Variante zu wählen, bei der der Asphalt mit
einer Gasflamme für die Neumarkierung getrocknet werde.
## „Jetzt nicht aufhören“
Radaktivist Strößenreuther mahnt derweil, nicht mit der Ausweisung neuer
Radspuren aufzuhören, sondern „jetzt richtig Fahrt aufzunehmen“: „Es gibt
unzählige Straßen, wo durch den Tausch Parkstreifen mit Radstreifen sofort
für massiv mehr objektive wie subjektive Sicherheit gesorgt werden kann.“
Wichtig sei, dass Kreuzungen eigenes Augenmerk verdienten: „Auch ein guter
Radweg macht eine schlechte Kreuzung nicht sicher.“
Trotz aller lobenden Worte kann sich der Rad-Mann einen beißenden Kommentar
zur Kantstraße nicht verkneifen: „Leider scheint immer noch erst jemand
sterben zu müssen, bevor Wallung in den Verwaltungen aufkommt.“
5 Feb 2021
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