# taz.de -- Die FDP und Thüringen: Lindners Legende

> FDP-Chef Christian Lindner tut so, als sei die Unterstützung der AfD
> überraschend gewesen. Es gibt Hinweise, dass das eine faustdicke Lüge
> sein könnte.
Berlin taz | Christian Lindner hat den Spin nach reiflicher Überlegung in
die Welt gesetzt. Er äußerte sich spät am Mittwochnachmittag, fast drei
Stunden [1][nach dem Eklat in Thüringen]. Und er las seine Position vom
Blatt, jedes Wort sollte sitzen. Die Unterstützung der AfD sei
„überraschend“, da sie nicht von Übereinstimmungen in der Sache, sondern
rein taktisch motiviert sei, sagte er. Und: „Wer [...] unsere Kandidaten in
geheimer Wahl unterstützt, das liegt nicht in unserer Macht.“

Man musste Lindner so verstehen, als sei die FDP ein Opfer. Als habe sie
nicht kommen sehen, dass die [2][rechtsradikale Höcke-AfD] den Liberalen
Thomas Kemmerich mit zum Thüringer Regierungschef wählen würde. Auch wenn
[3][Kemmerich am Donnerstagnachmittag zurücktrat] und so das Drama vorerst
beendete: Christian Lindners Spin verdient es, hinterfragt zu werden, weil
er viel über den FDP-Chef verrät.

Er war nicht der einzige Liberale, der überrascht tat. Das ZDF filmte eine
hitzige Diskussion zwischen FDP-Bundesvize Wolfgang Kubicki, der
Grünen-Bundestagsabgeordneten Franziska Brantner und dem Sozialdemokraten
Thomas Oppermann. Die Szene spielte sich laut Brantner am Mittwoch gegen 15
Uhr im Europaparlament in Straßburg ab.

## In ein Dilemma geraten?

Die AfD habe einen eigenen Kandidaten im dritten Wahlgang gehabt, wehrte
Kubicki Kritik der KollegInnen ab. „Niemand konnte damit rechnen, dass der
keine Stimmen …“ Das letzte Wort ist nicht zu verstehen, aber es ist klar,
was Kubicki meint. Konnten also FDP und Union nicht wissen, dass die AfD
ihren eigenen Mann fallen lässt, um mit CDU und FDP für Kemmerich zu
stimmen? Das ist ein zentraler Punkt. Stimmt die Version von Lindner und
Kubicki, hätte die FDP-Spitze nicht versagt. Sondern sie wäre unverschuldet
in ein Dilemma geraten, durch die verräterische AfD.

Das Problem ist nur, dass Lindners Erzählung aus den eigenen Reihen
widerlegt wurde. Von Leuten, die es wissen müssen – zum Beispiel von Thomas
Kemmerich höchstpersönlich. Am Mittwochabend fragte ihn Marietta Slomka im
„heute journal“, ob er nicht geahnt habe, dass die AfD die Gelegenheit
nutze – schließlich habe es ausdrückliche Warnungen gegeben. Kemmerich
antwortete, man habe seine Kandidatur „sehr detailliert in den
Parteigremien besprochen“. Er fügte hinzu: „Und wir mussten damit rechnen,
dass dieses passiert.“

Am Donnerstagmorgen war er dann im ARD-„Morgenmagazin“ zugeschaltet und
sagte, er sei vorher, also vor der Wahl, „permanent“ mit Lindner in Kontakt
gewesen. „Wir haben auch besprochen, was wir hier in Thüringen beschlossen
haben.“ Lindner habe gesagt, „die Entscheidung trifft letztlich der
Thüringer Verband“. Glaubt man Kemmerich, wusste die Thüringer FDP also
sehr wohl, was passieren kann. Und sie tauschte sich eng mit Lindner aus,
was in solchen Lagen auch der Normalfall ist.

Und Lindner war überrascht? Schwer zu glauben. Zumal noch eine wichtige
Zeugin anderes erzählt. CDU-Chefin Annegret Kramp-Karrenbauer sagte im
„heute journal“ am Mittwochabend, dass sie und andere auf die Gefahr
hingewiesen hätten, dass die AfD das Spiel spielen werde, welches sie dann
auch gespielt habe. Sie habe auch Christian Lindner „sehr herzlich darum
gebeten“, dafür zu sorgen, dass die FDP keinen Kandidaten aufstelle. Jener
habe aber augenscheinlich nicht den Durchgriff in Thüringen gehabt, um die
FDP vor Ort davon abzubringen.

## Die Lockrufe der AfD

Aber Lindner war überrascht? Das glaube, wer will. Das Angebot der AfD zur
Kooperation lag schließlich seit Monaten auf dem Tisch. Am 1. November, ein
paar Tage nach der Landtagswahl, schrieb AfD-Rechtsaußen Björn Höcke einen
Brief an Kemmerich. Darin bot er dem FDPler an, „gemeinsam über neue Formen
der Zusammenarbeit ins Gespräch zu kommen“. Eine von der AfD unterstützte
Minderheitsregierung wäre eine denkbare Alternative zu Rot-Rot-Grün,
schwärmte Höcke.

Die Offerte wiederholte er danach im Landtag. In der Sitzung am vergangenen
Donnerstag lud er CDU und FDP erneut dazu ein, gemeinsam „einen
bürgerlichen Ministerpräsidentenkandidaten“ zu finden. Höcke rief: „Lassen
Sie uns hier gemeinsam die geistig-moralische Wende einleiten.“ Die
Lockrufe der AfD waren also unüberhörbar. Und die Variante war natürlich in
den Landtagsfluren Thema, die Gerüchteküche brodelte. Aber die Berliner
FDP-Spitze wurde kalt erwischt?

Das digitale Wirtschaftsmagazin Business Insider meldete am Donnerstag das
Gegenteil. Die FDP-Führung habe sich sehr wohl auf die Wahl Thomas
Kemmerichs eingestellt. Am Montagabend habe jener nach einer Sitzung des
FDP-Landesvorstandes mit Lindner telefoniert. Dabei informierte Kemmerich
ihn, dass er im dritten Wahlgang antreten werde, sollten dann
Ex-Ministerpräsident Bodo Ramelow und der AfD-Kandidat Christoph
Kindervater weiter zur Wahl stehen. Das Argument: Man wolle dem
bürgerlichen Lager ein alternatives Angebot machen.

## Grünes Licht

Laut dem Bericht wurde bei dem Gespräch auch die Möglichkeit erörtert, dass
Thomas Kemmerich mit den Stimmen der AfD gewählt werde. Christian Lindner,
so das Magazin, habe dafür laut Aussagen aus dem [4][engen Führungskreis
der FDP grünes Licht gegeben]. Die FDP dementierte die Story auf Twitter:
Zu keinem Zeitpunkt habe Lindner „intern oder öffentlich eine wie auch
immer geartete Kooperation mit der AfD gebilligt“.

Bei einem Dementi kommt es auf jedes Wort an. „Gebilligt“ hat Lindner eine
Kooperation mit der AfD vielleicht nicht. Aber offenbar hat er geduldet,
dass die Thüringer FDP wissentlich das Risiko der Leihstimmen von der AfD
einging. Und viel deutet darauf hin, dass er dieses Führungsversagen
übertünchen wollte, indem er sich im Nachhinein überrascht gab.

Man hat angesichts dieses Desasters viele Fragen an die FDP: Bleibt
Christian Lindner bei der Aussage, die Unterstützung der AfD sei
„überraschend“ gewesen? Wie erklärt er die Aussagen seines Parteifreundes
Kemmerich? Und bleibt auch Wolfgang Kubicki bei seiner Aussage, niemand
habe damit rechnen können, dass die AfD ihren eigenen Kandidaten am Ende
fallen ließ?

Entsprechende Fragen der taz an die FDP-Pressestelle blieben bis zum späten
Donnerstagnachmittag unbeantwortet. Mag sein, dass es eine schlüssige
Erklärung für all die Widersprüche gibt. Vielleicht ist es aber auch ganz
einfach und Christian Lindner und Wolfgang Kubicki haben eine faustdicke
Lüge verbreitet.

6 Feb 2020

## LINKS
[1] /Thueringens-neuer-Ministerpraesident/!5662136
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[3] /Nach-Lindner-Besuch-in-Thueringen/!5662292
[4] /Thueringen-und-die-FDP/!5658317
## AUTOREN
Ulrich Schulte
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