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Hamburg taz | Wohl keiner hat sie alle gesehen. Wenn das Ende des Zuges
kommt, war die Spitze schon vor einer Stunde da: Die „Omas gegen rechts“
und die DJs, die Kurden und die Afghanen, die Seenotretter und die Frauen,
Ärzte, Eritreer oder Roma: Insgesamt 45 Trucks, dröhnend laut, geschmückt.
Ein Karneval gegen Abschiebung, gegen die AfD, gegen die Seehofers und die
Orbáns dieser Welt. 450 Flüchtlingsgruppen aus ganz Deutschland haben zur
Welcome-United-Parade am Samstag in Hamburg aufgerufen. Sie wollen an
[1][die Grenzüberschreitung der Flüchtlinge vom Budapester Bahnhof Keleti
vor drei Jahren] erinnern; und jetzt schieben die Menschen und die Laster
sich in einer nicht zu überblickenden Prozession durch St. Pauli in
Richtung Hafen.
Fast am Ende, dort, wo Bässe die Trucks der Seenotrettungsgruppen umwabern,
läuft Swantje Tiedemann, eine junge Frau mit blonden kurzen Haaren. Sie ist
gewissermaßen auf Betriebsausflug: In Nordfriesland versucht Tiedemann
ehrenamtliche Flüchtlingshelfer zu unterstützen, ihr Arbeitgeber ist der
Flüchtlingsrat Schleswig-Holstein, dessen Transparent sie und fünf
KollegInnen vor sich her tragen. „Musikalisch haben wir es hier hinten
nicht so gut getroffen“, sagt Tiedemann, ansonsten aber ist sie zufrieden.
Hier sei ein „auffällig breites Publikum“ unterwegs, sagt sie: Familien mit
Kindern und Hunden, ältere Leute; solche, die wohl immer schon politisch
aktiv waren – und solche, die wohl noch vor wenigen Monaten nicht auf eine
solche Veranstaltung gekommen wären.
„Die politische Lage, was in Chemnitz passiert ist, das hat manchen
Menschen das Gefühl gegeben: Da müssen wir was machen“, sagt Tiedemann.
Genau das spüre sie auch bei ihrer Arbeit mit den Flüchtlingshelfern in der
ländlichen Region im äußersten Norden der Republik. „Das sind oft Leute,
die etwas älter und konservativ in ihrer Grundhaltung sind. Und trotzdem
ist bei ihnen jetzt eine Politisierung festzustellen.“ Heute in einer
solchen Masse auf der Straße zu sein, findet sie „beruhigend. Das zeigt,
dass man nicht so alleine ist, wie man manchmal denkt.“
Seit dem Sommer hat sich die Lage in Sachen Flüchtlinge fundamental
verändert: Im Mittelmeer hat Italien jede menschenrechtliche Hemmung fallen
gelassen und seine Häfen gesperrt, in Marokko wird auf Flüchtlinge
geschossen. In Deutschland ist mit Horst Seehofer ein Minister für
Migration zuständig, der diese für „die Mutter aller Probleme“ hält und
danach auch handelt. Und seit dem Wochenende wird die AfD laut einer
Umfrage als zweitstärkste Partei in Deutschland gehandelt.
Der Protestbewegung allerdings gab das einen Schub. Die Seenotretter, deren
Schiffe an die Kette gelegt wurden, [2][bekamen so viele Spenden], dass sie
sich jetzt einfach neue kaufen können – wenn sie denn wüssten, wo sie die
Menschen damit hinbringen sollen. Die [3][Seebrücken]-Demos schafften es
aus dem Stand, nahezu flächendeckend in ganz Deutschland Demonstrationen zu
organisieren. 50.000 Menschen gingen [4][unter dem Motto „ausgehetzt“ in
München] gegen die CSU auf die Straße. Und bei der [5][„#unteilbar“-Demo in
zwei Wochen] in Berlin sollen es noch viel mehr werden.
## Selbst die Elbphilharmonie macht mit
Auf diese Stimmung hatten auch die [6][Veranstalter von Welcome United
gesetzt]. 25.000 Menschen, so kündigten sie an, würden an diesem Tag nach
Hamburg kommen. Um 16.20 Uhr spricht die Polizei von 20.000. Die Agenturen
übernehmen die Zahl. Die Organisatoren lassen selbst zählen und melden, es
seien 30.000.
Am Abend berichten fast alle großen Medien über die Parade. Aus 35 Städten
sind Busse gekommen. Eine größere Aktion haben Flüchtlingsgruppen in
Deutschland noch nie auf die Beine gestellt. Und dieser Rekord, er ist
vielen hier heute noch wichtiger als sonst: Wir sind eben doch mehr – das
ist das Signal, das man senden will.
Um 16 Uhr erreicht der Zug die Hafenstraße. Entlang der grandiosen Kulisse
der Docks, vom alten Elbtunnel bis zum Fischmarkt, parken die Trucks im
Steinwurfabstand. Genau hier [7][prügelte die Polizei vor einem Jahr, beim
G20-Gipfel, die autonome „Welcome2Hell“-Demo auseinander], noch bevor sie
losgelaufen war. An diesem Samstag aber ist von Polizei nichts zu sehen.
Die Musik läuft weiter, RednerInnen sprechen vom NSU, von der Lage
geflüchteter Frauen oder über die EU-Grenzschutzagentur Frontex. Vor den
einst besetzten Häusern der Hafenstraße wird Suppe ausgegeben. Auf dem
Transparent der Bühne der Abschlusskundgebung steht: „Migration ist die
Mutter aller Gesellschaften“. [8][Bilder davon verbreiten sich in
Minutenschnelle auf Twitter.]
Mittendrin, im Schatten einer Fußgängerbrücke, steht Newroz Duman, eine
junge Kurdin aus Hanau mit wallenden dunklen Locken. Sie selbst floh 2006
über das Mittelmeer nach Deutschland, seitdem ist sie politisch aktiv.
Schon vor einer Woche ist sie nach Hamburg gekommen, hatte die Parade
mitorganisiert und auch die Zahl von 25.000 an die Presse gegeben. Nicht
alle im Vorbereitungskreis hatten das für eine gute Idee gehalten. Jetzt
hat sie mit ihrer Prognose recht behalten.
Zufrieden gibt Duman Interviews, sagt Sätze wie: „Alle, die hier sind, sind
von hier“, oder „Das Problem heißt nicht Migration, das Problem heißt
Rassismus.“ Der darüber entscheide, wer auf dem Mittelmeer gerettet werde
und wer ertrinken müsse, der entscheide darüber, wer ein Recht auf
Familienleben und wer im Job stärker ausgebeutet werde.
Dagegen helfe nur praktische Solidarität. Immer wieder erklärt Duman, wie
stark die heute sei. „Jeden Tag wehren sich in diesem Land Tausende in
ihrem Alltag gegen Nazis oder Abschiebung.“ Deutschland, will sie sagen,
ist voll von Leuten wie Swantje Tiedemann und ihren Ehrenamtlichen in
Nordfriesland. Und auf die komme es nun an: Wenn die Politik in die
Offensive gegen den Flüchtlinge gehe, müssten Unterstützer für Schutz
sorgen.
Und an diesem Nachmittag sieht es so aus, als seien dazu viele bereit, bis
in sehr bürgerliche Kreise. Selbst die Elbphilharmonie hat die Flaggen der
Welcome-United-Parade gehisst, ebenso wie viele Theater und andere
Kultureinrichtungen in Hamburg.
Das ist auch der AfD nicht entgangen: „Undankbare Ausländer (+ deutsche
Linksradikale) demonstrieren dafür, dass Deutschland so wird, wie die
Heimatländer aus denen sie geflohen sind“, twittert der Hamburger
Landesverband. Dass öffentliche Kultureinrichtungen sich auf die Seite der
Abschiebegegner schlagen, ist für sie ein Unding.
Kurz bevor die Sonne hinter dem Fischmarkt in der Elbe versinkt, betritt
Ibrahim Manzo Diallo die Bühne. Der Radioredakteur trägt eine schwarze
Lederjacke und verbeugt sich in alle Richtungen. Er lebt in Agadez in Niger
und leitet dort den Sender Sahara FM. Durch Agadez kamen jahrelang fast
alle Westafrikaner auf dem Weg nach Europa.
Vor zwei Jahren kam Angela Merkel, seitdem bewachen Militär und Polizei,
ausgerüstet von Deutschland und der EU, die Route durch die Wüste.
Migranten werden gestoppt, ihre Fahrer verhaftet. Diallo hat früh darauf
aufmerksam gemacht, dass deshalb immer mehr Migranten auf gefährlichen
Routen, weit abseits der Straßen, durch die Wüsten fahren und dort den Tod
finden. Die Sahara sei durch die Intervention der EU heute „ein Friedhof
unter freiem Himmel“.
Diallo ist dabei, ein Alarmtelefon für Migranten, die auf dem Weg durch die
Wüste in Not geraten, aufzubauen. Ohne die Hilfe der europäischen Gruppen,
die ihn zu der Demo nach Hamburg eingeladen haben, wäre das nicht möglich.
„Ich bin geehrt und glücklich, dieses andere Europa in Form von euch heute
hier zu sehen“, sagt er.
30 Sep 2018
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