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## Toxische Mutter-Tochter-Beziehung
Mütter haben heute viele Rollen zur Auswahl: Rabenmutter, Helikoptermutter,
Latte-macchiato-Mutter, Insta-Mom. Was diese Typen eint, ist: Sie sind
schlecht. Zu viel oder zu wenig präsent, zu sehr um sich selbst oder zu
sehr um die Kinder kreisend.
„Gilmore Girls“ hat versucht, diesen Schubladen der Schande mit der
Beziehung von Rory und Lorelai eine entgegenzusetzen: die Mutter als
chaotische, beste Freundin. Rory und Lorelai verbringen viel Zeit
miteinander, sie sitzen, sehr viel Kaffee trinkend, im Café, oder, sehr
viel Junkfood essend, vorm Fernseher. Sie reden über alles und jeden und
übernehmen öfters die Rolle, die die andere eigentlich spielen sollte:
Rory, die vernünftige, leistet ihrer verplanten Mutter Lebenshilfe. Und
Lorelai vergöttert Rory. Sie will, dass ihre Tochter das Leben lebt, das
sie selbst wegen der frühen Schwangerschaft nicht haben konnte.
In ihrer Rede zum Collegabschluss sagt Rory vor ihren Mitschülerinnen:
„Meine ultimative Inspiration ist meine beste Freundin – die
außergewöhnliche, göttliche Frau, die mir meinen Namen und mein Leben
geschenkt hat.“ Schluchz – aber auch: Ihh! Jede Frau, die ein Kind auf die
Welt gepresst hat, es schreiend, zahnend, fiebernd nachts durch die Wohnung
getragen und mit blutigen Brustwarzen gestillt hat, hofft wahrscheinlich
insgeheim irgendwann auf so einen Satz. Als Dank.
Aber er wäre grundfalsch. Die Mutter als beste Freundin, als symbiotische
Erweiterung des eigenen Selbst, als betreuungsintensives Kleinkind, das
kann nur schiefgehen. Dass Rory unter diesem Druck nicht zusammenbricht
oder wenigstens dagegen aufbegehrt, ist, nun ja, eben eine kitschige
Drehbuchvorlage Anfang der 2000er gewesen. Anne Fromm
## Das „Vorreiter“-Problem
„Gilmore Girls“ handelt von Unabhängigkeit und Freundschaft. Es ist eine
Geschichte, in der Frauen die Hauptrollen ihres Lebens spielen, während
Männer kommen und gehen. Die Serie galt als progressiv: unter
Kritiker*innen, die Dialoge und Kamera lobten – und sowieso unter den Fans:
die Teenager*innen der 2000er, die mit der Show so stark identifiziert
sind, dass jede Kritik an ihr sich anfühlt, als spuckte einem jemand ins
erste Poesiealbum.
Aber harsche Kritiker*innen der Serie gibt es mittlerweile sicher ebenso
viele wie Fans, die sie mehrmals durchgesehen haben. Oft genug sind es
dieselben. „Gilmore Girls“ ist schlecht gealtert. [1][Für den fast
ausschließlich weißen Cast] – die [2][wenigen Figuren of Color sind
Stereotype] – gäbe es heute zu recht keine lobende Erwähnung mehr. Ebenso
wenig für die Heteronormativität ([3][der Sender hatte eine lesbische Figur
abgelehnt]). Und selbst bei der feministischen Storyline fällt mit Abstand
auf, dass sie in neoliberale Ideale verpackt ist: sozialer Aufstieg via
Entrepreneurship und Elite-Uni.
Man kann daraus schließen, dass „Gilmore Girls“ ein reiches, weißes
Fantasyland als Fortschritt verpackt und damit lange durchgekommen ist.
Oder man kann schließen, dass wir an sogenannte
Vorreiter-Serienretrospektive zu hohe Ansprüche stellen. Werte wie
„richtig“, „gut“ und „progressiv“ sind nicht zeitlos. Diese Erwartung kann
kein „Gilmore Girls“ erfüllen, kein „Sex and the City“ – und wahrscheinlich
auch kein „Transparent“ oder „Pose“. Peter Weissenburger
## Am besten #TeamSingle
Drei feste Freunde hat Rory während ihrer Schul- und Collegezeit, und wie
es sich für Fans einer Kultserie (und ja, als das kann man Gilmore Girls
durchaus bezeichnen) gehört, muss man sich für einen entscheiden:
#TeamDean, #TeamJess oder #TeamLogan.
Rorys erste großer Liebe Dean (Jared Padalecki) ist ein All-American-Boy:
Der unschuldige Junge aus der Kleinstadt, sportlich, handwerklich begabt,
verteidigt seine Liebsten. Kurz darauf verliebt sie sich in genau den
gegenteiligen Jungen: Jess ([4][Milo Ventimiglia]) ist ein klassischer Bad
Boy, Schulschwänzer, gutaussehend, schweigsam. In Yale lernt Rory dann
Logan ([5][Matt Czuchry]) kennen, der vor allem eines ist: reich. Man
könnte noch hinzufügen, dass er zugegebenermaßen ziemlich charmant ist.
War die Wahl schon vor mehr als einem Jahrzehnt ziemlich schwer, ist sie
heute schier unmöglich. Denn was alle drei eint, ist ihre toxische
Männlichkeit. Dean ist zwanghaft eifersüchtig und versucht von Beginn an,
Rory zu kontrollieren. Jess (für die meisten der Favorit, was eine aktuelle
nicht repräsentative Umfrage bei Twitter bestätigt) ist zwar ziemlich cool,
aber leider auch ziemlich übergriffig. Beispielsweise auf einer Party von
Rorys bester Freundin Lane, in der er versucht, mit Rory zu schlafen und
ihre vielfachen Neins einfach ignoriert. Bliebe da noch Logan, der Rory
dominiert, in dem er immer weiß, was am besten für sie ist, und sie
schlussendlich zwingen will, ihre Karriere für ihn aufzugeben.
Am Ende der ansonsten unsäglichen Netflix-Fortsetzungsstaffel bleibt
wenigstens ein Gutes: Anstatt sich nach 16 Jahren für einen der drei Männer
zu entscheiden, bleibt Rory Single. Carolina Schwarz
## Sie bleibt das Mädchen aus der Villa
Lorelai Gilmore balanciert in der Serie über ein wackliges Seil, unter ihr
die Schlucht. Metaphorisch gesprochen. Sie wird deshalb für ihren Mut
bewundert. Bei näherem Hinsehen fällt da aber der Sicherheitsgurt auf, der
um Lorelais Hüfte geschnallt ist. Selbst wenn sie einen falschen Schritt
macht, wenn sie ins Wanken gerät, der Gurt wird sie auffangen.
In „Gilmore Girls“ wagt sich Lorelai aus ihrem privilegierten, reichen
Elternhaus, mehr noch: Sie flüchtet. Lorelai ist 16, sie hat gerade ihre
Tochter Rory auf die Welt gebracht, und nichts wünscht sie sich mehr, als
ein selbstbestimmtes, aufregendes Leben in Freiheit zu leben. In der Serie
wird Lorelai als Emanzipationsqueen gefeiert, wird uns Zuschauer:innen als
Frau der arbeitenden US-amerikanischen Klasse gezeigt. Eine, die weiß, was
viel Geld aus Menschen macht (manipulative, aufgeblasene Schnösel) und nun
beschlossen hat, auch ohne viel Geld auszukommen zu können.
Na ja, fast. Denn für ihre Tochter Rory wünscht sich Lorelai genau so ein
Leben voller Privilegien. Sei es die Ausbildung an einer Privatschule oder
einer Elite-Uni wie Havard oder Yale, das erste eigene Auto oder eine
Fünf-Sterne-Europareise. Bei allen emanzipatorischen Ambitionen, die
Lorelai hat: Am Ende bleibt sie eine Frau mit gewaltigen Privilegien, mit
einem Sicherheitsgurt, der sie im Zweifel davor bewahrt, in die tiefe
Schlucht unter ihr zu stürzen. Das alles wäre halb so schlimm, würde
Lorelai genau das anerkennen und wertschätzen. Du kriegst das Mädchen aus
der Villa, aber die Villa nicht aus dem Mädchen. So oder so ähnlich. Erica
Zingher
5 Oct 2020
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