# taz.de -- Wählerwanderung in den USA: So viele Schwarze Stimmen

> Mehr Schwarze Männer als je zuvor wählten die Republikaner. Warum? Eine
> Spurensuche in der Schwarzen Hauptstadt der USA.
Ich werde dir jetzt etwas sagen, was ich noch nie jemandem erzählt habe.“
Christopher Strather zögert kurz. Nein, sagt er dann mit fester Stimme, er
könnte niemals einen Schwarzen dafür verurteilen, dass er seine Stimme
nicht Kamala Harris gegeben hat. Er atmet aus, holt tief Luft. „Als 2008
alle Obama wählten, habe ich den Republikaner John McCain gewählt.“ Jetzt
ist das große Geheimnis gelüftet. Strather traute Barack Obama die
Präsidentschaft damals schlicht nicht zu; ihm fehlte die
Regierungserfahrung, sagt er. Erst als Obama 2015 die „Ehe für alle“
verabschiedete und das Weiße Haus in Regenbogenfarben aufleuchtete, öffnete
sich Strathers Herz für Obama. Er, Christopher, 51 Jahre alt, ein schwuler
Schwarzer Mann, weinte an diesem Tag wie ein Baby.

Kamala Harris blieb bei der Präsidentschaftswahl am Dienstag in vielen
ländlichen Regionen und Vorstädten hinter den Erwartungen zurück. Mehr als
die Hälfte aller Latino-Männer stimmten für Trump. Und auch mehr Schwarze
als je zuvor gaben Donald Trump ihre Stimme, obwohl sie eigentlich als
loyale demokratische Wähler:innen gelten. Landesweit wählten nur 7
Prozent der Schwarzen Frauen Trump, doch über 20 Prozent der Männer. Schon
im Vorfeld spekulierten amerikanische Medien monatelang über deren
Beweggründe.

„Ihr kommt mit allen möglichen Gründen und Ausreden daher“, sagte Barack
Obama im Oktober in einem emotionalen Wahlkampfauftritt in Pennsylvania.
„Damit habe ich ein Problem. Ein Teil von mir denkt, dass ihr einfach keine
Lust auf eine Frau als Präsidentin habt und euch andere Gründe dafür
einfallen lasst.“

Der Bundesstaat Georgia hat einen der größten Bevölkerungsanteile Schwarzer
Bürger:innen in den USA. Im Gespräch mit einem Dutzend Schwarzer Männer
in der Hauptstadt Atlanta, mit jungen und älteren, Akademiker:innen,
Angehörigen der Mittelschicht und der Arbeiterklasse lässt sich nicht
wirklich ein Muster erkennen, kein roter Faden: Die Entscheidung für Harris
oder Trump, oder aber für keinen der beiden, war mal opportunistisch, mal
irrational – oft aus einem Bauchgefühl heraus getroffen.

## 2016 war der Schmerz enorm gewesen

Der Tag nach der Präsidentschaftswahl ist ein wolkenverhangener grauer
Herbsttag. Christopher Strather ist ein Mensch mit tiefer Stimme und
gutmütigen Augen, die sich zu Schlitzen zusammenziehen, wenn er lächelt. Er
lispelt so stark, dass man ihn manchmal kaum versteht. Strather sitzt auf
einer Holzbank in seinem Stammlokal NoMas, ein beliebtes mexikanisches
Restaurant im Viertel Castleberry Hill im Zentrum Atlantas. Castleberry
Hill ist ein ehemaliges Industriegebiet mit alten Lagerhäusern, politischen
Graffitti und schicken Loftwohnungen. Hinter Strather stehen bunte Tonvasen
und Statuen von rauchenden Mexikanern mit Sombreros, an der Decke leuchten
Lampenschirme aus Stroh. Strather wirkt gehetzt, unruhig, trinkt nichts,
isst nichts. Gleich müsse er zurück zur Arbeit, man warte auf ihn. Er
managt eine Immobilienfirma.

Strather schlief selig durch in der Wahlnacht, sagt er. Am Morgen wachte er
auf und wunderte sich über seinen Gleichmut, die gute Laune. Der Kampf war
vorüber. Auf den Ausgang hatte er sich vorbereitet. Er freute ihn nicht,
störte ihn aber auch nicht allzu sehr. Spätestens seit Trumps Team in einem
Werbeclip gezeigt hatte, wie Harris in einem Interview 2019 sagte, sie
würde Geschlechtsumwandlungen für trans Menschen in kalifornischen
Gefängnissen unterstützen, wusste er, sie würde es schwer haben.
Steuergelder in solche Extravaganzen fließen zu lassen – so etwas wollten
selbst demokratisch gesinnte Wähler:innen nicht, schon gar nicht die
Schwarzen, die in gesellschaftspolitischen Fragen oft konservativ tickten.

Wie passt diese gleichmütige Reaktion zu einem Menschen wie Strather, der
noch am Vortag, dem Wahltag, gesagt hatte, die Ungewissheit fühle sich an
wie „Warten auf die Resultate eines Tests auf Geschlechtskrankheiten“? Seit
Monaten hatte Strather jeden Nachrichtenfetzen, jeden Werbeclip gesichtet,
den ihm das Internet zuspülte.

Zu viele Steine hätten Kamala Harris den Weg zur Präsidentschaft versperrt.
Der größte von allen: Sie sei eine Frau in einem sexistischen und
rassistischen Land, noch dazu eine Schwarze. Joe Biden war unbeliebt,
Harris konnte sich trotzdem nicht gegen ihn stellen. Jetzt aber ist
Christopher Strather nur noch stolz darauf, dass Harris einen „damn good“,
einen makellosen Wahlkampf ausgefochten habe.

2016, erinnert Strather sich, war der Schmerz enorm gewesen. Nichts davon
empfindet er heute. Trump sei ein Monster, das ja. „Aber mir persönlich
kann das Monster nichts anhaben“, sagt Strather. „Sie sperren
Migrantenkinder in Käfige. Das sind nicht meine Kinder. Sie verbieten
Abtreibungen. Ich brauche keine Abtreibung.“ Strathers große und einzige
Befürchtung, sagt er, seien der Oberste Gerichtshof und die Bundesgerichte.
Was, wenn Trump weitere konservative Richter einsetzt und so die wichtigste
Kontrollinstanz der Regierung auf Jahrzehnte hinaus mit einer
stockkonservativen Auslegung des geltenden Rechts prägt?

## Südliche Bundesstaaten als „Testgelände“ für das rechtsextreme „Project
2025“

Schon während seiner letzten Amtszeit hatte Trump 200 konservative,
vorwiegend junge, weiße Männer auf Lebenszeit an die Bundesgerichte
Amerikas berufen und damit sein Erbe gefestigt. In seinem Kopf versteht
Strather, wie gefährdet die Demokratie ist. Aber er fühlt es nicht,
zumindest nicht heute und auch nicht in den Tagen danach.

Spricht man auf den Straßen Atlantas in den Tagen nach der Wahl davon, dass
Trumps Sieg in Deutschland ein regelrechtes Beben ausgelöst hat, reagieren
die Leute nicht selten mit großem Erstaunen. Von Bestürzung ist hier wenig
zu spüren. Nur eine Frau, eine Ärztin und Lobbyistin für
Reproduktionsrechte, sagt, sie hätte sich dazu entschieden, ihre Tochter
zum Studium nach Europa zu schicken. Die USA sei für junge Frauen im
gebärfähigen Alter kein sicherer Ort mehr, es fehle die Versorgung.

Immer weniger Studierende wollten wegen der restriktiven Abtreibungsgesetze
an den Universitäten der südlichen Bundesstaaten studieren, immer weniger
junge Ärzt:innen ihre medizinische Ausbildung hier angehen. Viele
Kliniken hätten bereits geschlossen. Was die Republikaner bald auf
nationaler Ebene durchsetzen wollten, spiele sich heute schon in einzelnen
Bundesstaaten wie Florida, Tennessee und auch Georgia ab. Diese Staaten
dienten als „Testgelände“ für das rechtsextreme „Project 2025“ der
Republikaner.

Alles wie immer, zucken andere mit den Schultern. Viele haben gar nicht
gewählt, es würde sowieso nichts bringen. Dass möglicherweise ihre eigene
Zukunft an diesem vermaledeiten Dienstag besiegelt wurde – sie glauben
einfach nicht daran. Auch hier in Atlanta gibt es natürlich die
Verzweifelten, die politisch Trauernden, die sogenannte Elite, zu der auch
Journalist:innen, Kunst- und Kulturschaffende gehören. Nur muss man die
erst einmal finden.

## Die Armen und der Milliardär

Die Obdachlosigkeit muss in Atlanta, Geburtsstadt von Martin Luther King,
Heimat von Coca-Cola und CNN, niemand suchen. Die Gegend um Downtown ist
heruntergekommen, Drogenabhängige, Sexarbeiterinnen und andere vom Leben
gebeutelte Gestalten wanken durch die Straßen, kauern auf dem Asphalt,
fristen ihr Dasein in Decken eingewickelt in ihren Rollstühlen. Frühmorgens
schläft eine vermummte Person auf dem Fensterplatz in der U-Bahn, neben ihr
ein Kleinkind, sein Kopf ruht auf dem nackten Plastiksitz. Die winzigen
roten Stiefelchen passen nicht auf den Sitz, die Beine hängen herunter und
baumeln. Hinter den beiden haben sich zwei weitere Kinder wie Kätzchen in
ihre Jacken zusammengerollt und schlafen.

Atlanta ist eine überwiegend demokratische Stadt. Aber im Rest Georgias
wählt man seit 1992 republikanisch. Es war eine Ausnahme, dass Joe Biden
hier 2020 mit nur 12.000 Stimmen über Trump siegte, so knapp wie sonst
nirgendwo in den Vereinigten Staaten. Weil rechte Republikaner:innen
sich weigerten, dieses Ergebnis zu akzeptieren, wurde Georgia plötzlich zum
Schauplatz von Trumps Versuch, die Wahl zu manipulieren.

[1][„Georgia was stolen“, log Trump damals und forderte vom obersten
Wahlbeamten, einem Republikaner, in einem Telefonat die fehlenden Stimmen
„irgendwie zu finden“]. Doch niemand konnte einen Betrug nachweisen, Biden
blieb Präsident. Am Dienstag war die Atmosphäre in den Wahllokalen
aufgeheizt. Tausende Demokraten berichteten im Vorfeld von
Einschüchterungsversuchen durch Rechtsextreme, Anwälte arbeiteten Tag und
Nacht an gegen republikanische Versuche, Menschen von den Wahllokalen
fernzuhalten.

Bevor Christopher Strather von seiner Holzbank aufsteht und zu seinem Job
zurückeilt, spricht er die Kellnerin an. „Entschuldigen Sie, ich suche nach
einem Kellner. Jung, Schwarz und recht aggressiv, ein Trump-Verfechter.
Wissen Sie, wen ich meine?“ Die junge Kellnerin lacht und nickt wissend.
„Torrence!“

Strather erzählt, wie der Kellner Torrence sich vor einigen Wochen in sein
Tischgespräch im NoMas einmischte. Wie er laut verkündete, niemals für
Harris zu stimmen, ohne dass ihn jemand gefragt hätte. Torrence solle man
befragen.

## „Illegale Migrant:innen“ in Hotelunterkünften

Am nächsten Mittag taucht Torrence Davis, 42, der keine drei Gehminuten vom
Restaurant entfernt wohnt, eine halbe Stunde zu spät auf. Ohne
Entschuldigung. Davis ist ein charismatischer, direkter Typ, der nie
innehält und kaum zuhört. Davis ist weder dumm noch besonders rechts, er
hört den liberalen öffentlichen Radiosender NPR und hat trotzdem Donald
Trump seine Stimme gegeben. Die Argumente, die er dafür vorbringt, sind
eine Mischung aus populistischem Halbwissen, Verharmlosung, aber auch
legitimer Kritik an der demokratischen Politik.

Davis sagt Dinge wie: „Die Entscheidung war eine wie zwischen zwei Tellern,
von denen auf dem einen Kotze, auf dem anderen Scheiße lag.“ Oder: „[2][Ob
Russland die Ukraine einnimmt, ist mir egal.] Auf meinem Weg von zu Hause
zum Restaurant leben 17 Obdachlose, einer schläft jede Nacht im Gebüsch,
wer kümmert sich um die?“

Aber wie kommt Davis auf den Gedanken, dass sich Donald Trump, ein
Milliardär und notorischer Lügner, für diese Obdachlosen interessiert?

Sein Leben lang, antwortet Davis, hätte er die Demokraten gewählt. Hillary
Clinton sei eine furchtbare Kandidatin gewesen, trotzdem habe er für sie
gestimmt. Trump lag damals jenseits von dem, was Davis als „normale
Unerträglichkeit eines Politikers“ befand. Als sein Onkel 2016 als Erster
in der Familie Trump wählte, stritten sich die beiden monatelang. Auch vor
vier Jahren unterstützte Torrence Davis noch Joe Biden.

Was muss passieren im Leben eines Kellners, der sieben Tage die Woche acht
Stunden am Tag arbeitet und im Monat zwischen 4.000 und 6.000 Dollar
verdient, damit er Donald Trump unterstützt?

Nichts Weltbewegendes. Dass Sexismus im Spiel sei, leugnet Davis, zumindest
sei das bei ihm nicht der Fall. Sein Schlüsselmoment sei gewesen, als er
von den Hotelzimmern erfuhr. Davon, dass „illegale Migrant:innen“ in von
Steuergeldern finanzierten Hotelunterkünften lebten.

Tatsächlich kamen in New York Neuankömmlinge zwischenzeitlich auch in
Hotels unter, weil die Notunterkünfte voll waren – eine Situation, auf der
die Republikaner gern herumreiten.

## Die letzte Brücke zur Arbeiterklasse verloren?

Torrence Davis sagt, er habe weder etwas gegen Einwanderer, noch gegen
Schwule oder trans Menschen, im NoMas arbeiteten sie alle friedlich
zusammen. Aber es gebe Dinge, die zu weit gingen. Die Demokraten
versuchten, Menschen gegeneinander auszuspielen.

Harris, die mantrahaft einen „neuen Weg nach vorn“ ankündigte und
versprach, dass „wir gewinnen, wenn wir kämpfen“, glaubte er kein Wort.
Wohin dieser Weg führen sollte und was wirklich in ihrem Kopf vorging,
blieb für Davis unklar. Mit Bernie Sanders, sagt er, hätten die Demokraten
ihre letzte Brücke zur Arbeiterklasse verloren.

Die Mutter von Torrence Davis war Zahnarzthelferin, der Vater bei der
Airforce. Er selbst machte eine Ausbildung zum Computerfachmann, heiratete
jung, ließ sich nach der Geburt von zwei Kindern scheiden, fiel in ein
psychisches Loch und wurde obdachlos. Dabei hatte er immer einen Job. Eines
Tages saß er nachts in seinem Auto, bibberte vor Kälte und fragte sich:
„Wie konnte ich so tief fallen?“

Heute sind Davis’ drei Kinder 17 und 16, die jüngste Tochter ist 11. Er hat
ein stabiles Familienleben. Ob die Kinder studieren wollen, sollten sie
selbst entscheiden, sagt er. Davis weigert sich, ein Opfer Schwarzer
Geschichte zu sein. Er glaubt nicht an systemischen Rassismus, hält nichts
von Identitätspolitik und Reparationszahlungen, lehnt die
Black-Lives-Matter-Bewegung ab. „Jeder Weiße, der dich zur Verantwortung
ziehen will, weil du Scheiße baust, soll Rassist sein?“ Vielleicht ist
diese Perspektive selbst Ausdruck eines Privilegs – in Atlanta zu leben,
der Schwarzen Hauptstadt der USA.

Die Wahlnacht verbrachte Torrence Davis im NoMas, mit Mitarbeiter:innen,
Freund:innen, Nachbar:innen. Einer war mit einer roten Käppi gekommen, dem
Markenzeichen der „Make America great again“-Bewegung von Donald Trump.
Davis verzieht das Gesicht, als er davon spricht. Er selbst hatte
zähneknirschend getan, was er aus seiner Sicht tun musste. Ein guter Tag
sei der Wahltag deshalb noch lange nicht gewesen.

10 Nov 2024

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## AUTOREN
Marina Klimchuk
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