# taz.de -- Modellprojekt Dekoloniale: Die Mitte dekolonialisieren

> Mit ihrer Abschlussausstellung richtet die Dekoloniale ihren Blick auf
> Berlins Mitte. Ihre Arbeit würden sie gern fortführen – am liebsten
> bundesweit.

BERLIN taz | Die meterhohen Fenster der Nikolaikirche leuchten bunt. Aus
verschiedenfarbigen, teils gemusterten Fetzen hat der Künstler Percy Nii
Nortey riesige Stoffbahnen zusammengenäht. Sie hängen nun von innen vor den
normalerweise durchsichtig verglasten, nach oben spitz zulaufenden
Kirchenfenstern. Aufgenäht hat er überlebensgroße Umrisse von Figuren. Es
sind Schwarze Menschen in bunten Gewändern, bei der Arbeit: ein Mann mit
einer Spitzhacke, eine Frau mit einer Nähmaschine und eine mit einer
Waschschüssel. Ein Mann, der Stoffballen schleppt, eine Frau vor gefüllten
Körben mit einem Kind.

Die Bilder sind Teil der Ausstellung Dekoloniale – Was bleibt?!, die ab
Donnerstagabend an verschiedenen Orten in Mitte zu sehen ist (siehe
Kasten). Die Nikolaikirche war dabei für die Ausstellungsmacher*innen
auch als Ort ein Thema, erzählt Anna Yeboah, Gesamtkoordinatorin der
Dekoloniale, bei einer Vorbesichtigung am Mittwoch. Es ist die älteste
Kirche Berlins. Und sie trägt selbst Spuren von Kolonialismus – etwa weil
hier mindestens drei Personen in aufwändig gestalteten Ehrengräbern
bestattet sind, die maßgeblich die Kolonialisierung aus Berlin
vorangetrieben haben. „Koloniale Gespenster“ heißt der Teil der
Ausstellung, der sich mit der Rolle der Kirche in den kolonialen Projekten
auseinandersetzt.

Norteys Fensterbehänge sind an die Tradition bunter Kirchenfenster
angelehnt, die oft aus bunten Glasstücken zusammengesetzt sind und auf
denen meist außerdem Heilige oder Kirchenstifter zu sehen sind. Der
Künstler nutzte dafür Stoffe, die er zuvor an Automechaniker*innen,
Holzhohleverkäufer*innen oder Marktfrauen in seinem Geburtsland
Ghana verteilt hatte. Er sammelte sie nach einiger Zeit wieder ein, wenn
sie mit Öl, Benzin oder Dreck befleckt waren. Wie Muster sind solche Spuren
nun in den durchscheinenden Fenstern zu sehen. Es ist sein Ansatz, um die
dortigen Gemeinschaften und Arbeiter*innen in seine Kunst
einzubeziehen.

Die Ausstellung, die [1][von einem Festival begleitet wird,] ist
gleichzeitig der Abschluss des Modellprojekts Dekoloniale. Das hatte den
Auftrag, am Beispiel von Berlin zu zeigen, wie und wo sich Spuren des
Kolonialismus in der Stadt niederschlagen. Seit 2020 haben dabei drei
zivilgesellschaftliche Initiativen – die Initiative Schwarze Menschen in
Deutschland, E.O.T.O. (Each one teach one) und Berlin Postkolonial – mit
dem Stadtmuseum Berlin zusammengearbeitet. Vier [2][Ausstellungen und
Festivals] und mehrere Workshops sind daraus hervorgegangen, außerdem haben
sie Stolpersteine verlegt und Gedenkstelen errichtet.

## Betroffene längerfristig beteiligt

„Das war ein Meilenstein für die Community“, sagt Koordinatorin Yeboah. „Es
war das erste Projekt, in dem von Kolonialismus Betroffene ernsthaft und
längerfristig beteiligt waren.“ Kolonialismus und Dekolonialisierung seien
ein Querschnittsthema. Denn „fast überall gibt es Spuren von
Kolonialismus“, sagt Yeboah. Im Projekt hätten sie sich mit den „Orten von
Täterschaften“ auseinandergesetzt. „Dabei haben wir uns gefragt: wie können
wir mit diesen Orten umgehen, wie intervenieren oder diese Worte mit etwas
Neuem überschreiben?“, sagt Yeboah.

Auch Sophie Plagemann, die neue Direktorin des Stadtmuseums Berlin, und
Paul Spies, der scheidende Stadtmuseumsdirektor, betonen, wie begeistert
sie von der Zusammenarbeit waren. Diese habe zu einer neuen Haltung
geführt, sagt Spies. „Wir haben gelernt, zu überlassen, mitzumachen, zu
unterstützen, aber nicht zu bestimmen.“ Das Stadtmuseum habe sich als einer
von vier gleichberechtigten Partner begriffen.

Direktorin Plagemann sagt, dass sie die Erfahrungen aus dem Projekt auch in
die Arbeit generell weitertragen wollen. Entsprechend finden sich Fragen im
zweiten Teil der Ausstellung: „Wie umgehen mit rassistischen Objekten?“,
„Wie viel Gewalt steckt in Museumssammlungen?“, oder „Wer erzählt wessen
Geschichte?“, steht atazuf den Blöcken, auf denen sie vier Personen des
Widerstands und vier Akteure der des Kolonialismus präsentieren. Das seien
Fragen, mit denen sich das Stadtmuseum weiter auseinandersetzen will,
betont Plagemann.

Ein bisschen wie ein Labor sei das gewesen, dafür, „wie das sein kann, wenn
die Zivilgesellschaft so ein Projekt inhaltlich steuert“, sagt Nadja
Ofuatey-Alazard von E.O.T.O., verantwortlich für die Gastkünstler*innen,
über die Zusammenarbeit. „Es gab auch Konflikte, und es hat auch geknallt –
aber gerade diese Auseinandersetzung brauchen wir auch“, sagt sie.

## Indigo als kolonial beeinflusste Farbe

In der Ausstellung in der Nikolaikirche arbeitet nicht nur Nortey mit
Textilien. Von der Decke hängen große blaue Mobiles, wie ein Netz aus mit
Stoff gefüllten Schnüren und Bändern. Teils sind sie zu Kugeln geknotet,
einige haben goldene Akzente. Die Stoffe sind allesamt tiefblau. Wie die
Künstlerin erklärt, handelt es sich dabei um die Farbe Indigo.

Die Pflanze, aus der dieser Farbstoff ursprünglich gewonnen wurde, wächst
in Indien, dem tropischen Afrika und China. Die Farbe kam mit dem
Kolonialismus nach Europa, wo sie schnell sehr beliebt war und für Reichtum
und Gesundheit stand. Seit dem 19. Jahrhundert kann sie auch synthetisch
hergestellt werden. Die Künstlerin sagte selber „die Farbe ist beruhigend,
und heilsam“, daraus erhoffe sie sich auch Hinweise, wie die Gesellschaft
heilsam mit Orten umgehen könnte. Daneben erinnern die Arbeiten von
Charlotte Ming und Kankun Shi daran, dass Deutschland auch in Asien
Kolonien hatte.

Um die Rolle von Berlin geht es bei der Ausstellung „Erinnern.
Entschuldigen. Entschädigen“ im Projektraum der Dekoloniale in der
Wilhelmstraße. Dort, in der damaligen Reichskanzlei, war vor 140 Jahren die
Afrika-Konferenz eröffnet worden, bei der europäische Mächte den Kontinent
regelrecht unter sich „aufteilten“. Den Teil dort hätten sie eigentlich als
Dauerausstellung gedacht, sagt Christian Kopp von Berlin Postkolonial. Doch
nun hätten sie vor einer Woche erfahren, dass der Besitzer den Mietvertrag
nicht verlängern wolle. Damit könnte Ende Dezember mit Ende des Projekts
auch der Auszug anstehen. „Es ist nicht irgendein Ort. Und es ist für uns
sehr wichtig, dass wir dort sind“, sagt er. „Wir wollten das [3][zu einem
Dokumentationszentrum] machen.“ Aktuell bemühen sie sich darum, doch
bleiben zu können.

Die Zukunft des Projektraums ist damit ungewiss – für die Zukunft der
Dekoloniale hätten die Macher*innen schon Ideen, bestätigen sie bei der
Ausstellungseröffnung. Doch auch hier ist es unklar, wie es weitergehen
könnte. Denn zum Jahresende läuft auch das Modellprojekt Dekoloniale aus.
„Wir bekommen für unsere Arbeit bundesweit Aufmerksamkeit“, sagt Nadja
Ofuatey-Alazard. Es wäre sinnvoll, die entstandenen Expertisen fortzuführen
– auch über Berlin hinaus. „Wir wären ready“, sagt sie, genauso wie
Initiativen und Institutionen in anderen Städten. Es brauche nur den
politischen Willen.

Mitarbeit: Anuschka Dollinger

13 Nov 2024

## LINKS
[1] https://www.dekoloniale.de/de/manifest/specials
[2] /Dekoloniale-Ausstellung-in-Berlin/!5956847
[3] /Dekoloniale-Afrika-Konferenz-beginnt/!5725837
## AUTOREN
Uta Schleiermacher
## TAGS
Dekolonisierung
Postkoloniale Perspektive
Afrika
Widerstand
Stadtmuseum Berlin
Deutscher Kolonialismus
Postkolonialismus
IG
## ARTIKEL ZUM THEMA
Dekoloniale Straßenumbenennungen: Petersallee endlich Geschichte
Die Umbenennung der Straße in Maji-Maji-Allee und Anna-Mungunda-Allee ist
rechtskräftig. SPD-Politiker Schulz kritisiert lahmen Bezirk Mitte.
Projekt Dekoloniale in Berlin: Der Kampf um Selbstbestimmung
Die Ausstellung „Totz allem“ erzählt die widerständigen Geschichten von
Migranten. Es ist der zweite Kiez-Besuch des Dekoloniale-Projekts.
Dekoloniale Praxis im Kulturbetrieb: Manches muss einfach weg
Deutsche Museen beschäftigen sich neuerdings mit ihrer kolonialen
Geschichte. Weil sie es müssen. Doch kann man wirklich alles
dekolonisieren?