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Die stattliche Ulme neben uns erzittert. Als sie dann ihre Wurzeln wie
Beine aus der Erde zieht, erschrecken wir uns fast zu Tode. Mit offenem
Mund sehen wir den zwanzig Meter hohen Baum gemächlich die Straße
entlangschlurfen und hinter der nächsten Kurve verschwinden. „Keine Sorge,
der muss nur zur jährlichen Wartung in die Werkstatt“, lacht Gerhard
„Gerry“ Unterhuber. Der 43-jährige Allgäuer ist staatlich geprüfter
Agrarökonom und hat uns im Auftrag der bayerischen Landesregierung zu einem
Spaziergang durch den „Wald der Zukunft“ eingeladen.
Wie es zum Jahrtausendprojekt im malerischen Bodenmais kam, erzählt er
gleich zu Beginn: „Als im Zuge der letzten Bundeswaldinventur verkündet
wurde, dass die Wälder in Deutschland nicht mehr zur Speicherung von
Treibhausgasen beitragen, sondern selbst zur CO2-Schleuder geworden sind,
mussten wir den Nichtskönnern in Berlin einfach mal zeigen, wie gute
Klimapolitik funktioniert. Das Ergebnis sehen Sie hier.“
CSU-Mitglied Unterhuber klopft an einen scheinbar urwüchsigen Lindenbaum.
Das Geräusch klingt hohl und metallisch. „Der R-117 hat eine
Metall-Polyethylen-Legierung im Rindenlook, an dem sich Borkenkäfer die
Zähne ausbeißen. Die sich selbst reproduzierenden Kunststoffblätter sind
fotosynthesefähig und zerfallen im Herbst einfach zu Mineralöl“, klatscht
der Waidmann begeistert in die Hände. „Aber der Clou kommt noch. Das
angesaugte Kohlendioxid leitet unser Buschtitan über eine 6.000 Kilometer
tiefe Pipeline direkt in den Erdkern.“
Unterhuber hält einen Stein hoch, der ihm augenblicklich aus der Hand in
ein Astloch gesogen wird. Wie er, also Unterhuber, stolz berichtet, habe
das Konzept einen prominenten Fan. „Markus Söder kommt regelmäßig zu Besuch
und lässt sich hier in Waldelf-Verkleidung als Retter der Umwelt
fotografieren. Folgen Sie mir, bitte!“
## Ein Mann wie kein Baum
Wenig später sind wir mit Unterhuber auf den herrlichen Wanderwegen seines
200 Hektar großen Schrottwalds unterwegs. Bald fällt uns ein Mann auf, der
auf der anderen Seite des Zauns mit der Faust droht und umherspringend
obszöne Verwünschungen ausstößt. „Das ist der Wohlleben“, winkt der
Gutsverwalter ab. Weil sich die bayerische Landesregierung entschieden
habe, den gesamten Wald nach erfolgreicher Testphase nur noch mit
Kunstbäumen aufzuforsten, sei der Baumversteher aus der Eifel auf
hundertachtzig.
Unterhuber führt uns in einen Bereich, der von naturhungrigen Städtern
intensiv zum Waldbaden genutzt wird. „Die Hardcore-Fans unter den
Baumfreunden zu überzeugen, war natürlich kein leichtes Unterfangen. Aber
damit haben wir sie letztlich gekriegt. Schauen Sie!“
Wir werden Zeuge, wie ein Feldahorn die Umarmung einer Frau mittels
elastischem Gummigeäst zärtlich erwidert. Die Seniorin strahlt vor Glück.
Unterhuber jodelt kurz auf und holt aus einer falschen Spechthöhle eine
eisgekühlte Limonade, die er an einem Ast zischend aufknackt.
„Wie Sie sehen, müssen Erholungsbedürftige, die sich auf das
Alternativkonzept einlassen, auf nichts verzichten. In unserem
Wellnessbereich ist jedes Gewächs mit einem lernfähigen KI-Rechner,
Mikrofon und Lautsprecher ausgerüstet. Man braucht also nicht erst
aufwändig zu erspüren, wie ein Baum sich fühlt. Stattdessen kann man ihn
selbst fragen und erhält binnen Sekunden eine sinnstiftende Antwort mit der
Stimme von Franz-Josef Strauß.“
## Begrabt mich an der Biegung des Astes
Am Nachmittag schleichen wir weiter auf leisen Sohlen durch die staatliche
Friedwald-Abteilung. Aus sicherer Entfernung beobachten wir eine
Prozession, die sich der letzten Ruhestätte des Verstorbenen nähert. „Die
Erkennungssoftware kann via Baumkamera das individuelle Ausmaß von Trauer
an den Gesichtern ablesen“, raunt uns Unterhuber aus einem Drahtgebüsch zu.
„Der Rechner wählt dann aus Zehntausenden von Musiktiteln genau das Stück
aus, das dem Gemütszustand der Beerdigungsteilnehmer am ehesten gerecht
wird. Obacht!“ Wir zucken zusammen, als urplötzlich „Celebration“ von Kool
and the Gang aus den Baumboxen wummert. Als wenn der Partyhit in
ohrenbetäubender Lautstärke noch nicht genug wäre, regnet es statt
ästhetisch herabsegelnder Blüten Konfetti aus den Wipfeln. Weil Unterhuber
auf ein Gespräch mit der wütend heranstürmenden Trauergemeinde keinen Wert
legt, verabschiedet er sich per Handschlag von uns und stiebt durch das
Dickicht davon.
Auf unserem Weg zum Ausgang erleben wir neben dem Zaun noch eine faustdicke
Überraschung. Wir erwischen Peter Wohlleben dabei, wie er versucht, einen
Haufen Reisig anzuzünden, um damit Unterhubers High-Tech-Forst in Brand zu
stecken.
Als der nur mit einem Lendenschurz bekleidete Eifelförster uns sieht,
schwingt er elegant an einer Liane zurück in den benachbarten Naturwald.
Auch wenn wir das glimmende Feuerchen sofort austreten, müssen wir keine
Wahrsager sein, um uns einer Sache vollkommen sicher zu sein: Der kommt
wieder!
22 Oct 2024
## AUTOREN
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