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Anna Hofer will Eltern von Einzelkindern Mut machen. [1][Sie hat einen
Elternratgeber geschrieben] und will ein Feld aufmischen, in dem viel
Literatur aus den 1990er Jahren stammt und wissenschaftlich überholt ist.
„Aus meiner Arbeit als Elternberaterin weiß ich, dass sich Mütter und
manchmal auch Väter oft große Sorgen machen, ihren Kindern ohne Geschwister
wichtige Lebenserfahrungen vorzuenthalten“, sagt Hofer, die selbst
Einzelkind und Einzelkindmutter ist.
Schuld daran sei ein gesellschaftliches Zerrbild von weniger sozialen,
egozentrischen Geschwisterlosen. Wie tief solche Vorurteile sitzen, zeigt
sich, wenn selbst pädagogische Fachkräfte in Kita oder Schule teilweise
darüber sprechen, dass das eigene Kind angeblich nicht gut teilen kann,
weil es keine Geschwister hat. Oder wenn Personalverantwortliche in
Bewerbungsgesprächen explizit nach Geschwistern fragen, um mehr über die
vermeintliche Teamfähigkeit der Bewerber:innen zu erfahren.
Solche Vorurteile wirkten sich auf die Familienplanung vieler Paare aus und
erzeugten großen Druck, sagt Hofer. Dabei sollte die Entscheidung für ein
oder mehrere Kinder nicht von der Angst vor möglichen negativen Folgen
eines Einzelkind-Daseins bestimmt sein, sondern von der jeweiligen
Lebenssituation und den eigenen Vorstellungen. Schließlich gibt es genügend
Gründe, nur ein Kind zu haben. Manche Eltern sind mit einem Kind einfach
sehr glücklich und können sich ein zweites nicht vorstellen. Auch
finanzielle Aspekte können eine Rolle spielen. Manchmal will sich keine
zweite Schwangerschaft einstellen oder Paare trennen sich nach einem Kind.
Interessanterweise stammt das Zerrbild vom asozialen Einzelkind aus einer
Zeit, in der eine bewusste Entscheidung für ein Familienmodell kaum möglich
war. Über viele Jahrhunderte waren kinderreiche Familien die Norm. Der
Nachwuchs war je nach sozialem Status wichtig als Arbeitskraft oder als
Nachfolger in Rang und Ehre. Einzelkinder hingegen deuteten auf einen
schlechten Gesundheitszustand der Eltern oder auf familiäre Probleme hin.
Die bewusste Entscheidung gegen oder für ein Kind ist dagegen ein relativ
neues Phänomen. Denn zuverlässige Verhütungsmittel wie die Pille gab es
erst seit den 1960er Jahren.
## Von der Ausnahme zum Trend
Einzelkinder waren also lange Zeit die Ausnahme, die Gesellschaft konnte
ihnen recht einfach pathologische Eigenschaften zuschreiben. Der
Kinderpsychologe Granville Stanley Hall sah noch zu Beginn des 20.
Jahrhunderts im Einzelkindsein sogar eine Krankheit und erklärte, Eltern
mit vielen Kindern gelänge es besser, sie groß zu ziehen.
Von solchen Haltungen hat sich das moderne Familienbild entfernt, in
Deutschland und Österreich lebt in etwa der Hälfte aller Familien nur ein
Kind. „Familienplanung ist immer eine Momentaufnahme. Der Einzelkindstatus
kann sich schnell ändern“, sagt Christine Geserick, Soziologin am
Österreichischen Institut für Familienforschung. „Es kommen kleine
Geschwister dazu oder die Familienkonstellation ändert sich durch
Patchworkbeziehungen und Bonusgeschwister.“ Langfristig zeigen die Zahlen
aber einen leichten Trend zu mehr Ein-Kind-Familien – vor allem Eltern mit
hoher Bildung entscheiden sich oft bewusst für dieses Modell.
Interessant ist, dass Eltern, die selbst ohne Geschwister aufgewachsen
sind, auch häufiger nur ein Kind bekommen. „Die Zwei-Kind-Familie bleibt
aber auch in dieser Gruppe die Norm“, sagt die Soziologin. Das Bild der
Geschwister als soziale Lebensschule, die die Reifung vorantreibt, ist auch
bei ihnen verankert. „Ich halte diese Perspektive für verkürzt. Sie
verkennt, dass die meisten Kinder schon früh soziale Kontakte außerhalb der
Familie haben“, sagt Geserick. Sozialverhalten lerne man eben auch in der
Kita, Schule, dem Spielen in der Nachbarschaft oder dem Sportverein.
## Einzelkinder früher in der Kita
Die Bedeutung dieser sozialen Kontakte außerhalb der Familie ist den
meisten Eltern bewusst – übrigens egal wie viele Geschwister es gibt. Sie
kümmern sich aktiv um Verabredungen, melden ihre Kinder im Sportverein oder
beim Musikkurs an. Auch die Kita und später die Grundschule spielen dabei
eine große Rolle. Einzelkinder kommen im Schnitt ein halbes Jahr früher in
die Kita. Entwarnung auf breiter Front kommt auch aus der Wissenschaft.
Bereits Ende der 80er Jahre veröffentlichte die US-amerikanische
Psychologin Toni Falbo eine große Metaanalyse von mehr als 200 Studien über
Einzel- und Geschwisterkinder. Sie fand keine signifikanten Unterschiede in
den Charaktereigenschaften. Ihre Kollegin Judith Blake bestätigte diese
Untersuchung 1989 und sah Einzelkinder sogar als besonders sozial an, da
sie motivierter seien, Freundschaften außerhalb der Familie zu schließen.
Auch das langfristige Wohlbefinden von Einzelkindern wurde untersucht. Eine
US-Studie, in der 3221 Proband:innen in verschiedenen Lebensphasen
befragt wurden, ergab, dass Einzelkinder mindestens genauso glücklich und
zufrieden mit ihrem Leben waren wie Kinder mit Geschwistern. Selbst
einsamer fühlen sich Einzelkinder nicht, wie eine Studie der University of
Texas zeigt – und das, obwohl sie mehr Zeit mit sich selbst verbringen.
Eines der größten Vorurteile, nämlich die starke Ich-Bezogenheit,
untersuchte 2019 eine deutsche Studie der Universitäten Leipzig und
Münster. Die Forscherinnen und Forscher befragten zunächst Menschen zu
ihrer Meinung über Einzelkinder. Die 556 Proband:innen sollten
Einzelkindern und Kindern mit Geschwistern narzisstische Attribute wie
Selbstüberschätzung oder Selbstaufwertung zuschreiben. Dabei zeigte sich
deutlich, dass Einzelkindern häufiger mit einer Tendenz zum Narzissmus
verbunden wurden.
## Sind Einzelkinder narzisstischer?
In der zweiten Befragung wurde dieses Vorurteil überprüft. Dazu nutzten die
Forscher:innen einen etablierten Narzissmus-Fragebogen und die Daten von
insgesamt 1.810 Teilnehmenden einer repräsentativen Studie. Das Ergebnis:
Einzelkinder zeigten auf den wichtigen Narzissmus-Faktoren keine höheren
Werte als Geschwisterkinder. Dies änderte sich auch nicht, als die
Forschenden andere wichtige Variablen wie Alter, Geschlecht und
sozioökonomischen Status der Eltern herausrechneten.
„Die Forschung zeigt, dass das Bild vom ‚typischen Einzelkind‘ nicht
stimmt. Aber die Schublade ist tief. Daran müssen wir weiterarbeiten“, sagt
Hofer. Die Elternberaterin sieht aber auch positive Entwicklungen. Mit der
wachsenden Zahl von Ein-Kind-Familien in vielen Ländern bröckeln auch die
Vorurteile. Je mehr Menschen selbst Einzelkinder sind oder Einzelkinder
großziehen, desto eher entwickelt sich in der Gesellschaft ein
differenzierteres und realistischeres Bild.
Auch das Bild der Einzelkinder in den Medien wandelt sich langsam. In
Filmen oder Kinderbüchern tauchen sie ohne große Vorurteile auf. Und in den
sozialen Netzwerken gibt es eine starke Community von Ein-Kind-Eltern, die
sich über Ängste und Vorurteile austauschen und sich gegenseitig Mut
machen. Anna Hofer hält diese Entwicklung für wichtig. Sie sei grundlegend,
damit Eltern eine gute Entscheidung über ihre Familiengröße treffen können.
Ohne sich von unbegründeten Ängsten oder gesellschaftlichen Erwartungen
leiten zu lassen.
3 Oct 2024
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