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taz: Frau Dotzer, seit wann wissen Sie, dass Sie von pommerschen
Handwerkern abstammen?
Ulrike Dotzer: Seit meiner Kindheit. Das gehörte zu den rituellen
Erzählungen während der Familientreffen. Vor allem meine Großmutter sprach
immer wieder von der herrlichen Zeit in Stolp, dem heute polnischen Słupsk,
auch vom Friseurberuf, der in meiner Kindheit noch sehr präsent war. Eine
meiner Tanten führte die Familientradition fort und arbeitete als
selbstständige Friseurin. Mein Ur-Urgroßvater war noch Schmied gewesen und
mein Urgroßvater dann Friseur.
taz: In Ihrem Drei-Generationen-Roman „Goldener Boden“ emigriert ein
19-Jähriger 1896 aus Pommern in die USA. Hat er ein Vorbild in Ihrer
Familie?
Dotzer: Ja, meinen Urgroßvater. Ich habe das recherchiert und im
Auswanderermuseum in der Hamburger Ballinstadt seinen Namen auf den
Passagierlisten gefunden. Über seine Erfahrungen in Amerika wissen wir
nichts. Es ist nur verbürgt, dass er nach drei Jahren zurückkam. Die
Erfahrungen Gustavs in den USA im Roman sind fiktiv.
taz: Wann haben Sie bemerkt, dass die familiären Erzählungen über Ihre
Vorfahren lückenhaft waren?
Dotzer: Als mir in der Schule beim Thema Nationalsozialismus klar wurde,
dass die Deutschen den Zweiten Weltkrieg verschuldet hatten. Das war ein
riesiger Kontrast zur Haltung meines Großvaters, der – das wusste die ganze
Familie – nach wie vor Antisemit war und die „jüdische Weltverschwörung“
dafür verantwortlich machte.
taz: Was hat er selbst über die NS-Zeit erzählt?
Dotzer: Dass er während des Kriegs Gendarm gewesen sei. Ich habe später
recherchiert, dass es damals eine Landgendarmerie gab, als Teil des
NS-Apparates. Am frappierendsten war für mich die Entdeckung, dass mein
Großvater eine Blutgruppen-Tätowierung unter dem Arm hatte. Er war also in
der SS gewesen. Auf meine Nachfrage bejahte er, sagte aber, er habe nie
einen Menschen getötet. Seine Erzählung ging so: Er, der gelernte Kaufmann,
war Anfang des Krieges zur Polizei gewechselt, um nicht als Soldat
eingezogen zu werden. Das mag auch sein. Tatsächlich war die [1][Polizei]
aber eine ideologische Speerspitze des NS-Staats. Nahezu alle Polizisten
traten früher oder später der SS bei.
taz: Ihr Roman benennt auch die starke NSDAP-Unterstützung in Pommern.
Warum war Ihnen das wichtig?
Dotzer: Weil ich glaube, dass die totale Begeisterung für die NSDAP in
ländlichen Regionen bis heute unterschätzt wird. Pommern, Ostpreußen und
[2][Dithmarschen] waren sehr früh stramm nationalsozialistisch. Bei
Ostpreußen und Pommern erklärt es sich zum Teil dadurch, dass sie nach dem
Ersten Weltkrieg die Verschiebung der Grenzen erlebt hatten. Sie fanden,
dass durch den Friedensvertrag von Versailles die polnische Grenze viel zu
nah an die Kreisstadt herangerückt war. Außerdem hatten sie in dieser
landwirtschaftlich geprägten Gegend wirtschaftliche Einbußen erlebt und
fühlten sich von Berlin abgehängt.
taz: Wie präsent war die NSDAP im dortigen Alltag?
Dotzer: Das habe ich durch Archivrecherchen gemeinsam mit Robert
Kupisinski, dem Archivar des Mittelpommerschen Museums in Słupsk,
ergründet. Wir haben die Lokalzeitungen von damals angeschaut, die in
polnischen Archiven leichter zugänglich sind als in deutschen. Wir haben
uns auf die Stolper Post und die Zeitung für Ostpommern konzentriert. Es
war frappierend, wie präsent die NSDAP war und wie klar bestimmte Dinge
benannt wurden. Etwa die harten Strafen für Juden, die man – trotz Verbots
durch die NSDAP – am Ostseestrand erwischte.
taz: Gab es Zwangsarbeitende im Ort?
Dotzer: Ja. Der große Teich vor einer Stolper Schule hieß im Volksmund „See
Genezareth“, eine höhnische Anspielung auf jüdische ZwangsarbeiterInnen.
1942 lebten 30.000 Zwangsarbeitende in Stadt und Landkreis Stolp – bei
insgesamt 80.000 EinwohnerInnen. Auch das Dienstmädchen unserer Familie war
eine polnische Zwangsarbeiterin.
Was wissen Sie über sie?
Sie hieß „Luzie“, in meinem Roman „Lucja“. Ich habe herauszufinden
versucht, was aus ihr wurde und mich bei der Słupsker Organisation
ehemaliger ZwangsarbeiterInnen erkundigt, bin aber nicht fündig geworden.
Mich hat allerdings die Begegnung mit zwei einstigen [3][Zwangsarbeitenden]
sehr beeindruckt. Sie hat mir bewusst gemacht, wie prägend dieses Leid
Hunderttausender bis heute im polnischen Kollektivgedächtnis ist. Auch auf
dieses hierzulande oft ausgeblendete Thema wollte ich mit meinem Roman
hinweisen.
taz: Ihre Großmutter floh 1945 aus Stolp nach Thüringen in der sowjetischen
Besatzungszone (SBZ) und 1949 weiter nach Kiel. Warum?
Dotzer: Erstens, weil die Familie – ihre vier Kinder, der aus
Kriegsgefangenschaft zurückgekehrte Ehemann und ihr Vater – in Bad Bibra,
einem Dorf an der Grenze zwischen Thüringen und Sachsen-Anhalt,
armutsgefährdet war. Der zweite Grund: Die Rote Armee erschoss auf ihrem
Vormarsch alle deutschen Polizisten als Handlanger des NS-Regimes. Auch die
DDR, die aus der SBZ hervorging, verfolgte Nazis intensiver als die
Bundesrepublik. Die Familie floh also, weil mein Großvater mit seiner
Inhaftierung rechnen musste. Später in Schleswig-Holstein hat das niemanden
interessiert. Da war er der Friseur aus Stolp.
taz: Erfüllt der Roman für Sie eine persönliche Funktion?
Dotzer: Ja. Es ging mir darum, von Verdrängtem zu erzählen, weil ich dieses
[4][Schweigen] als typisch für viele deutsche Familien empfinde. Ich
erzähle, wie es eine Familie prägte, die die NS-Vergangenheit immer unter
den Tisch kehren musste, auch um zu überleben. Und ich spüre, wie sich das
bis in meine Generation fortsetzt: als Scheu, Konflikte anzusprechen und
auszutragen.
6 Oct 2024
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