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Berlin taz | Die grauen Plattenbauten am Kreuzberger Hafenplatz sollen
abgerissen werden. Nur wenige hundert Meter vom Potsdamer Platz entfernt
will der in den 70er Jahren errichtete Gebäudekomplex so gar nicht in die
von schmucken Neubauten geprägte Umgebung passen.
In Instandhaltung haben die über die Jahre wechselnden Eigentümer schon
lange nicht investiert; Bewohner:innen klagen über Ratten, Vermüllung
und defekte Aufzüge. Komplettabriss lautet der Plan von Eigentümer und
Bezirk. In Zukunft soll hier der „Kulturhafen“ entstehen, ein Quartier, das
verspricht, ebenso schick wie seine Umgebung zu sein, und dabei durch zwei
Bürotürme noch mehr Gewerbefläche bietet als sein schmuddeliger Vorgänger.
In der Immobilienbranche gehört Abriss und Neubau wie am Hafenplatz zum
Geschäftsalltag. Wenn unbebaute Grundstücke Mangelware sind, muss eben die
bestehende Bebauung weichen. Besonders häufig trifft es die stark
sanierungsbedürftige und oft zweckmäßig designte Nachkriegsbebauung der
60er und 70er Jahre. Doch gegen den Kahlschlag formiert sich zunehmend
Widerstand: klimabewusste Architekt:innen kooperieren mit
Mieterinitiativen, um Abriss zu verhindern.
Am Hafenplatz waren es zuerst die Bewohner:innen, die die Verdrängung aus
ihren Wohnungen [1][nicht widerstandslos hinnehmen wollten]. „Die Pläne für
den Abriss wurden uns im Januar von Bezirksvertretern vorgestellt“,
erinnert sich Noam Schuster, ein Anwohner, der anders heißt, aber lieber
anonym bleiben will. „Man sagte uns, der Rückbau sei unausweichlich.“
## Ein zweifelhaftes Gutachten
Um den Bezirk von seinem Neubauvorhaben zu überzeugen, gab der Eigentümer
des aus über 700 Wohnungen bestehenden Komplexes ein Gutachten in Auftrag.
Die Ingenieur:innen eines privaten Prüfbüros rechneten verschiedene
Szenarien durch. Das Ergebnis: Ein Komplettabriss wäre das nachhaltigste
Szenario, da sich die Treibhausgasemissionen durch Einsparungen im Betrieb
nach 18 Jahren ausgleichen würden.
Das Gutachten überzeugte den Bezirk, obendrauf winkte eine Kooperation mit
dem landeseigenen Wohnungsbauunternehmen Gewobag, das auf dem Grundstück
geförderten Wohnraum errichten sollte. „Uns geht es darum, kommunalen
Wohnraum für den Bezirk zu sichern“, sagt Baustadtrat von
Friedrichshain-Kreuzberg, Florian Schmidt (Grüne), der taz.
Doch die Mieter:innen, die sich kurz darauf zu einer Initiative
zusammenschlossen, hatten Zweifel: „Wie sicher sind überhaupt diese
Gutachten, wenn sie der Eigentümer beauftragt?“, fragt Schuster. Die
Mieter:inneninitiative fragte bei den Architects for Future an, ob
sie ein Blick auf das Gutachten werfen könnten.
Im Gegensatz zum vom Eigentümer bestellten Nachhaltigkeitskonzept kamen die
Architekt:innen zu einem vernichtenden Ergebnis. Dem Gutachten stellten
sie grobe Mängel aus: Neben offensichtlichen Rechenfehlern und fehlenden
Quellen bemängeln sie, dass eine Sanierung des gesamten Gebäudebestands
überhaupt nicht in Erwägung gezogen wurde.
„Allein im Tragwerk des Komplexes sind geschätzt 3.000 Tonnen CO2
gebunden“, sagt Tai Schomaker von Architects for Future. „Unsere Idee wäre,
zeitnah die Mietbereiche zu renovieren und dann im Zuge einer
Fassadensanierung mit Holzaufbauten aufzustocken.“
## Graue Energie wird nicht berücksichtigt
Derzeit liegen die Planungen für den Kreuzberger Hafenplatz ohnehin auf
Eis. Der Eigentümer, ein selbst für Berliner Verhältnisse [2][besonders
dubioser Investor], ist bei mehreren Projekten in Zahlungsschwierigkeiten
geraten. Die landeseigene Gewobag kündigte bereits die Kooperation auf, der
Bezirk hat sich distanziert. Doch ein liquider Investor könnte die Option
des Komplettabrisses jederzeit wieder auf den Tisch bringen.
Kritische Architekt:innen wie die Architects for Future arbeiten seit
Jahren an einem [3][Bewusstseinswandel in der Bauwirtschaft]. Weniger
Abriss, mehr Umbau lautet das Credo. Der Grund ist die „graue Energie“, die
im Gebäudebestand gespeichert ist. Besonders bei der Produktion von Beton
werden Unmengen an CO2 freigesetzt, was die Baubranche zu einem der
klimaschädlichsten Wirtschaftszweige überhaupt macht.
„Die Sichtweise unter den Architekten hat sich deutlich verändert“, sagt
Schomaker. „Bauen im Bestand und Umbau werden heute als die nachhaltige
Alternative zum Neubau angesehen.“ Mit seinen Kolleg:innen lobbyiert
Schomaker dafür, diesen Bewusstseinswandel auch in die Politik zu tragen.
An konkreten Ideen mangelt es nicht. So fordern die Architects for Future
ein Abrissmoratorium oder die Anpassung der Landesbauordnungen, um Bauen im
Bestand zu erleichtern.
In Berlin haben die Aktivist:innen damit bislang wenig Erfolg. Mit der
[4][Novellierung der Bauordnung] im Dezember zielte Schwarz-Rot vor allem
darauf, Neubau zu erleichtern. Ein Passus des Vorgängersenats, der im Falle
eines Abrisses vom Eigentümer ein Rückbaukonzept erforderte, wurde
ersatzlos gestrichen. „Durch die Überraschungsregierung haben wir starken
Gegenwind bekommen“, sagt Schomaker.
## Abriss meist günstigste und profitabelste Variante
Den Forderungen nach einer Umbauordnung erteilt der Senat weiterhin eine
Absage: „Die bisherigen Regelungen reichen unserer Ansicht nach aus“, sagt
der Sprecher der Senatsbauverwaltung, Martin Pallgen, der taz.
Klimapolitische Aspekte, wie in etwa die im Gebäude gespeicherte graue
Energie, spielen bei der Genehmigung von Abriss in Berlin keine Rolle. Da
sich Investor:innen weder um ihre CO2-Emissionen noch um die
Abfallbeseitigung Gedanken machen müssen, bleibt Abriss und Neubau meist
die günstigste und profitabelste Variante.
Vergebens sind die Bemühungen der Anti-Abriss-Bewegung dennoch nicht. Schön
gerechnete CO2-Bilanzierungen gehören heutzutage fast schon zum
Standardrepertoire, wenn Investor:innen versuchen, der Politik
Bauprojekte schmackhaft zu machen.
Das liegt vor allem an dem gesteigerten Problembewusstsein in der
Gesellschaft, das auch in der Bezirksverordnetenversammlung
Friedrichshain-Kreuzberg angekommen ist. Dessen Verordnete sehen den
Komplettabriss am Hafenplatz zunehmend kritisch. Denn um bauen zu können,
benötigt der Eigentümer einen Bebauungsplan, der zunächst einmal von der
Bezirksverordnetenversammlung beschlossen werden muss. „Man kann nicht
davon ausgehen, dass das so durchläuft“, schätzt Friedrichshain-Kreuzbergs
Baustadtrat Florian Schmidt.
11 Aug 2024
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