# taz.de -- Gesetz für Tötung von Straßenhunden: Die Türkei geht vor die Hunde

> Die Türkei hat ein Gesetz verabschiedet, das die Tötung von Straßenhunden
> vorsieht. Der Streit darüber zeigt, wie unversöhnlich die Gesellschaft
> ist.
Straßentiere gehören zu Istanbul dazu. Vor jeder Metzgerei liegt ein
dösender Hund, in jedem Schaufenster sitzt eine Katze auf einem Kissen und
putzt sich. Manchmal fahren Hunde sogar mit der Fähre durch die Stadt und
[1][werden so zu Social-Media-Stars].

Die Einheimischen, die in der Stadt leben, die mit ihren [2][hohen
Lebenshaltungskosten], dem lähmenden Verkehr und dem ohrenbetäubenden Lärm
kein einfacher Ort zum Leben ist, sehen das ironisch: Hier geht es den
Tieren besser als den Menschen. In den wohlhabenden Vierteln, wo Katzen und
Hunde oft so fett sind, dass sie kaum laufen können, jagen
Anwohner*innen die Tiere regelrecht, um sie zu füttern.

Neben all den Menschen, die Streuner füttern, gibt es auch diejenigen, die
das vehement ablehnen, die nicht wollen, dass es den Tieren besser geht als
den Menschen. Sie wollen nicht, dass man Mitleid mit den Viechern hat, wo
auch niemand Mitleid mit ihnen hat.

## Ebnet den Weg für Gewalt

Sie sagen zwar, sie hätten nichts gegen Tiere, und dass es nur darum ginge,
dass keine Menschen mehr angegriffen werden. Das ist aber nicht die ganze
Wahrheit. Tatsächlich zeigt die Debatte, dass die Gesellschaft aufgrund der
politischen Situation und der anhaltenden wirtschaftlichen Misere
gespaltener ist denn je.

Ein vom türkischen Parlament [3][verabschiedetes Gesetz ebnet den Weg zur
Massentötung] streunender Hunde. Trotz monatelanger Proteste von Opposition
und Tierschutzorganisationen konnte das Gesetz, das so viel Aufmerksamkeit
erregte, nicht gestoppt werden. Nach dem neuen Gesetz haben Streuner nicht
mehr die gleichen Rechte wie Haustiere. Die Regierung behauptet, dass es 4
Millionen streunende Hunde in der Türkei gebe. Belege dafür gibt es nicht.
Tatsächlich soll die Zahl niedriger sein.

Die Akademikerin und Tierrechtsaktivistin Mine Yıldırım sagte kürzlich,
dass Gewalt gegen Tiere den Weg für andere Formen von Gewalt in der
Gesellschaft ebnet: „Gewalt gegen Tiere ist eine Form von Gewalt, die nicht
nur die Beziehungen zwischen Mensch und Tier, sondern auch die Beziehungen
zwischen Menschen stört, verzerrt und verändert.“

## Ein verstörender Wunsch

Und seit Beginn der [4][Debatte um das „Euthanasiegesetz“] sind tatsächlich
viele Tierschützer*innen angegriffen worden. Auch Straßentiere zu
füttern, ist nicht ungefährlich. Anfang des Monats schlug ein Mann eine
Frau im Istanbuler Stadtteil Maltepe mit einem Stock, weil sie Streuner
gefüttert hatte. Erst letzte Woche wurden in Bursa eine Mutter und ihre
Tochter, die Katzen fütterten, von Nachbarn angegriffen und mussten
daraufhin ins Krankenhaus.

Kann man diesen Hass und diese Gewalt mit der Angst vor Hundeangriffen
erklären? Oder liegt etwas grundsätzlich Verstörendes in dem Wunsch, etwas
auszurotten, das andere lieben?

So wie Präsident Tayyip Erdoğan vor mehr als einem Jahrzehnt die
[5][Umweltschützer, die den Gezipark verteidigten], kriminalisierte, tat er
es nun mit denjenigen, die die Aufhebung des Gesetzes forderten: „Wir
werden nicht zulassen, dass drei bis fünf Randfiguren das Parlament
lahmlegen, indem sie Unruhe stiften. Wir werden keine Kompromisse eingehen,
wir werden diese Arbeit beenden.“

## Kein Platz in Tierheimen

Ein 2004 verabschiedetes Gesetz sollte das Problem lösen. Es verpflichtete
die Stadtverwaltung, streunende Hunde einzusammeln, zu kastrieren und
wieder auf die Straße zu lassen. Damit sollte das Populationswachstum
eingedämmt und ein Vakuumeffekt verhindert werden, bei dem nach einem
vorübergehenden Rückgang unkontrolliert neue Hunde nachrücken.

Das Problem ist, dass Gemeinden das so nicht umsetzten, weil Gelder dafür
falsch genutzt wurden. Von den 1.389 Gemeinden in der Türkei haben 1.200
kein Tierheim. Das jetzige Gesetz sieht eigentlich vor, dass die Hunde
eingesammelt und nur dann getötet werden, wenn sie niemand adoptiert, wenn
sie aggressiv sind oder an ansteckenden oder unheilbaren Krankheiten
leiden, wie es in einigen europäischen Ländern der Fall ist. Da es aber
keinen Platz für die Hunde gibt, wird das unweigerlich zu Massakern führen.
Die Tatsache, dass Euthanasie „ein guter Tod“ genannt wird, macht das
Vorhaben nicht weniger gewalttätig.

Das zeigt auch die Aggression, die die Debatte in der Gesellschaft auslöst.
Egal, wie es letztendlich umgesetzt wird, hat dieses Gesetz die Beziehungen
und das Vertrauen zwischen Nachbarn in der Türkei zerstört und einen
Nährboden für Gewalt geschaffen. Und wenn der Staat, wie es in der
Vergangenheit immer wieder gesagt wurde, beschließt, [6][die Todesstrafe
wieder einzuführen], werden die gesellschaftlichen Folgen nicht anders sein
als nach dem, was jetzt beschlossen wurde.

30 Jul 2024

## LINKS
[1] https://www.instagram.com/bojithetravellingdog/?hl=en
[2] /Preisgefaelle-im-Tourismus/!6023922
[3] /Hundefaenger-in-der-Tuerkei/!6024409
[4] /Strassenhunde-in-Istanbul/!6011427
[5] /Neun-Jahre-nach-Beginn-der-Gezi-Proteste/!5858694
[6] /Folgen-des-Putschversuchs-in-der-Tuerkei/!5352460
## AUTOREN
Ali Çelikkan
## TAGS
Recep Tayyip Erdoğan
Schwerpunkt Türkei
Tierschutz
Social-Auswahl
Türkei
Türkei
Kolumne Stadtgespräch
Landwirtschaft
## ARTIKEL ZUM THEMA
Töten von Straßenhunden in der Türkei: Exzesse von Hundehassern
Seit Kurzem ist in der Türkei das Töten von Straßenhunden erlaubt.
Tierschützer versuchen, so viele Vierbeiner zu retten wie möglich.
Hundefänger in der Türkei: Adoption, sonst bleibt nur der Tod
Erdoğans Regierung will Straßenhunden an den Kragen. Finden sie nicht in
einem Monat Besitzer, sollen sie getötet werden – trotz starker Proteste.
Straßenhunde in Istanbul: Hundeasyl oder Einschläfern?
Wenn Straßenhunde keine Adoptiveltern finden, müssen sie dran glauben. Ein
neues Gesetz der Erdoğan-Regierung sorgt in der Türkei für Empörung.
Tierschutzgesetz der Ampelregierung: Mehr Rinderschutz in 10 Jahren
Die schmerzhafte Anbindehaltung von Rindern soll verboten werden, aber
nicht sehr bald. Ein Gesetzentwurf sieht weitreichende Ausnahmen vor.