# taz.de -- Die Wahrheit: Heckenschwein mit Knopfaugen

> Die lustige Tierwelt und ihre ernste Erforschung (188): Kaum ein
> heimisches Vieh wird so geliebt wie der lärmige Igel, der „Tier des
> Jahres 2024“ ist.
Manche Tiere haben plötzlich Konjunktur, seit einiger Zeit sind es Igel,
die 2024 zum „Tier des Jahres“ erklärt wurden. Erst fielen mir auf Facebook
Fotos auf, die eine Igelmutter zeigten, die in einem Karton ein halbes
Dutzend Junge säugte, dann gleich mehrmals ein Foto von einer Katze, die
sieben kleine Igel adoptiert hatte und sie säugte. Ihre Mutter war von
einem Rasenmäher getötet worden. Und immer wieder ein „süßes Igelbaby“ in
der offenen Hand eines Menschen liegend.

Im deutschsprachigen Internet gibt es mittlerweile mehr als eine Million
Einträge über Igel. Ihren Winterschlaf halten sie von November bis März.
Manchmal unterbrechen sie ihn aber auch und gehen „einige Tage umher“. Im
angloamerikanischen Internet werden unter „Hedgehog“ fast 100 Millionen
Einträge gelistet. Dort bekommen die Igelmütter nur halb so viele Junge wie
in Deutschland.

Dafür wird erwähnt, dass die Igel „gelegentlich ein Ritual durchführen.“
Die Forscher nennen es „Salbung, wenn das Tier auf einen neuen Duft stößt,
leckt und beißt es die Quelle ab, bildet dann einen duftenden Schaum in
seinem Maul und klebt ihn mit seiner Zunge auf seine Stacheln. Der Zweck
dieser Angewohnheit ist unbekannt, aber einige Experten glauben, dass das
Salben den Igel mit dem neuen Duft der Gegend tarnt und Raubtieren, die von
seinen Stacheln gestochen werden, ein mögliches Gift oder eine
Infektionsquelle bietet.“

Mein Vater hat jedes Jahr einige Igel in einer Holzkiste überwintern
lassen, wenn sie munter wurden, gab er ihnen Milch zu trinken – von ihrer
Laktoseintoleranz wusste er nichts. Danach kratzten sie sich, aber wegen
ihres „Stachelkleides“ können sie sich ihrer Flöhe, Zecken und Milben
schlecht erwehren. Die Igelstation Göpner empfiehlt, damit sie ruhiger
schlafen können, einen Spray namens „Frontline“.

## Bloß nicht einsprayen!

Auf „wildtierrettung.de“ heißt es jedoch: Bloß nicht! „1. Ihre Schlafnester
sind ebenfalls voll mit Flöhen, und sie werden sich genauso viele Flöhe
wieder einfangen, aber ihr Immunsystem wird durch das Nervengift auf ihrem
kleinen Körper geschwächt.“ Und 2. „‚Dein‘ Igel treibt sich auch im Garten
Deiner Nachbarn herum, Dein Nachbar denkt genauso wie Du und besprüht ihn
auch mit einem handelsüblichen Flohmittel. ‚Dein‘ Igel hat damit die
doppelte Dosis mit dem angeschlagenen Immunsystem, und er stirbt.“

Der größte Feind des Igels ist, zumindest in England, der Dachs. Den Namen
Hedgehog, also „Heckenschwein“, trägt der Igel dort wegen seiner Geräusche.
Dazu schreibt die „deutschewildtierstiftung.de“: „Man hört sie durchs
Unterholz rascheln, wo sie auf Nahrungssuche sind. Wenn sie etwas zu
fressen gefunden haben, schmatzen sie laut und knacken bisweilen
Schneckenhäuser und Insektenpanzer. Am lautesten sind Igel jedoch, wenn die
einzelgängerisch lebenden Tiere auf Artgenossen treffen und in Streit oder
auch Paarungslaune geraten. Dann geben sie ein Keckern von sich und können
sogar fauchen und kreischen.“ Igel haben kein Territorium, deswegen kann es
sein, dass der fast zahme Igel in einem Garten, den der gerührte Besitzer
regelmäßig fotografiert, jedesmal ein anderer ist.

Besonders anrührend ist „die Geschichte des kleinen Igels mit dem großen
Herzen: ‚Eine Handvoll Glück‘“ über das anfänglich „winzige Igelweibchen
Ninna“ des italienischen Tierarztes Massimo Vaccetta. Das Buch
veröffentlichte er zusammen mit der Schriftstellerin Antonella Tomaselli.
Auf Amazon heißt es dazu: „Massimo kümmert sich aufopfernd um seinen neuen
Schützling, und schon bald ist Ninna nicht mehr aus seinem Leben
wegzudenken. Gemeinsam unternehmen die beiden Nachtspaziergänge, fahren ans
Meer und flüchten vor einem gefährlichen Dachsangriff.“

So schlecht ist das Buch aber gar nicht, wie fast jedes Buch über Tiere als
„companion species“ ist es mit Herzblut geschrieben, so to speak. Wenn man
sich auf ein Tier intensiv und lange eingelassen hat, dann bekommt man fast
automatisch mehr über ein Igelweibchen heraus als die halbe Artenforschung.

## Neugier über Niedlichkeit

Das Buch ist dennoch das Ergebnis einer Igelforschung, denn, mit den Worten
des Ökologen Josef Reichholfs: „Der Artenschutz steht nicht über dem
Tierschutz.“ Es war hilfreich, die nichtmenschlichen Lebewesen als Arten zu
erforschen, aber nun gehe es um Individuen: „Zu lange wurden sie lediglich
als Vertreter ihrer Art betrachtet, das machte sie austauschbar und
normierte sie zum ‚arttypischen Verhalten‘, aus dem die ‚artgerechte
Haltung‘ abgeleitet wurde. Das ist falsch“, sagt Reichholf an anderer
Stelle.

Über das Igelweibchen Ninna heißt es auf „literallysabrina.de“, der
Internetseite einer „Tierliebhaberin“: „Allein das Cover mit dem niedlichen
Igel hat mich neugierig gemacht.“ Aber auch die Artenschützer sind als
Igelretter nicht bar aller Leidenschaften für diese Insektenfresser mit den
Knopfaugen.

„Urlaub, Wochenende, Feierabend – das sind Begriffe, die im Vokabular der
meisten Menschen nicht vorkommen, die sich aktiv und ambitioniert in die
Igelhilfe und den Igelschutz einbringen. Oft kreist ihr gesamtes Leben um
die liebenswerten Stachler. Im Alltag geben medizinische Behandlung und
zeitraubende Routinearbeiten bei Pflege und Betreuung den Takt vor, wenn
man sich um hilfsbedürftige Igel kümmert …“, heißt es in dem Buch
„Stachelige Passion“ von Maja Langsdorff. Es werden darin die Geschichten
von zwölf Frauen und einem Mann erzählt, „die ihr Leben, ihre Energie und
ihre Zeit ganz den Igeln und dem Igelschutz widmen beziehungsweise gewidmet
haben.“ Erschienen sind ihre Interviews in Band 9 der Reihe „Igelwissen
kompakt“.

In England wurde unlängst der Gitarrist der Rockband „Queen“, Sir Brian
May, als „Retter von tausenden verwaisten oder verletzten kleinen Igeln“
bekannt. Er hat mit der Vorsitzenden des „Save Me Trust“ Anne Brummer und
seinem Geld das „Amazing Grace Rescue Center“ gegründet. „Es ist wunderbar,
den Igeln zu helfen, ich habe dabei so viele Freuden erlebt, an die ich
vorher nicht einmal im Traum gedacht habe“, erzählte er in der Channel 5
Show „Saving Britain’s Hedgehogs“ über das Aufziehen und Auswildern der
Igel in seinem „Rescue Center“, wo sie, um sich an die Freiheit zu
gewöhnen, in einen großen Garten kommen, der „ein Paradies für Igel“ sei.

Im Land der Gartenfreunde spielt der Igel eine viel wichtigere Rolle als in
Deutschland, das in puncto Igelschutz noch durchaus zulegen könnte. Das
meint auch die Wildtier-Stiftung, die mit ihrer aktuellen Werbekampagne auf
den langsamen Rückgang der Igel-Bestände aufmerksam machen will.

11 Mar 2024

## AUTOREN
Helmut Höge
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