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Wir sind in Luzern verabredet, wo Fulbert Steffensky mit seiner zweiten
Frau, der katholischen Theologin Li Hangartner, in einer schönen
Parterrewohnung mit Garten lebt, nicht weit vom Vierwaldstättersee. Es will
uns nicht gelingen, genau herauszufinden, wann wir uns das erste Mal
begegnet sind. Wir vermuten, es könnte beim Evangelischen Kirchentag 1981
in Hamburg gewesen sein, dem „Friedenskirchentag“, der geprägt war von der
Nachrüstungsdebatte. Wir sitzen in der Wohnküche. Er bittet darum, sich hin
und wieder hinlegen zu dürfen, „ich sacke dann ab und muss erst wieder
Kraft sammeln“.
wochentaz: Fulbert, im Sommer hast du das 90. Lebensjahr vollendet. Wie ist
es, alt zu sein?
Fulbert Steffensky: Eine gute Frage, denn du kannst es ja nicht wissen – so
jung noch. Ich würde meinen Gemütszustand als einen der grimmigen
Heiterkeit beschreiben. Heiter: Mir geht es leidlich gut. Ich habe Freunde
und Freundinnen, eine Frau, die mich liebt und mit der ich streiten kann.
Ich habe Enkelkinder und sogar eine Urenkelin. Bin gewandert, habe mein
Leben gelebt und mein Brot gegessen. Ich habe geliebt und liebe. Und ich
habe mich an vielen Stellen selbst verpasst. Ich bin an vielen Stellen
nicht der geworden, den ich mir selbst gewünscht habe, vielleicht zum
Glück.
Stört dich das?
Nein. Ich habe einen Reichtum gelebt als Leben, dass ich nur dankbar sein
kann. Ich starre nicht auf die Verluste des Lebens, die es natürlich auch
gegeben hat. Ich habe noch keine Zeit, von meinem absehbaren Tod gebannt zu
sein. Er kommt früh genug. Meine Dankbarkeit, meine Gefühle für das, was
mein Leben war und ja noch ist, sind für mich wie Neuschöpfungen auch
meiner selbst, Tag für Tag.
Hast du eine Vorstellung vom Sterben?
Nein, ich lasse mich überraschen. Ich habe keine Angst. Ich habe gute
Lehrmeister, meine verstorbene Frau …
… die legendäre Theologin Dorothee Sölle …
… ja, sie und die vielen Toten, die vor mir gestorben sind, sie lehren
mich, dass man sterben kann. Sie haben es gekonnt, so werde ich es auch
können, mehr oder weniger gut. Es muss ja nichts vollkommen gelingen, nicht
einmal das Sterben. Ich bin, wie sie, gegen die nur scheinbar tröstende
Idee vom ewigen Weiterleben. Zur Größe des Menschen gehört es, die eigene
Vergänglichkeit anzuerkennen, so sollten wir es auch mit dem Tod halten.
Dorothee sagte, ohne das Sterben können auch politisch keine Grenzen
angegeben werden. In der zerstörerischen Grenzenlosigkeit dem Leben
gegenüber drückt sich vielleicht die Angst vor dem Tod und vor dem Vergehen
aus.
Und das heißt?
Wir müssen nicht verbissen auf uns selbst bestehen. Wir leben, wir setzen
uns ein, kämpfen – und irgendwann kommen nächste, andere, die diese Kämpfe
bestreiten. Wir müssen nicht die Letzten sein – herrlich!
Du sprachst von Dankbarkeit, die du empfindest.
Dankbar für das Schöne. Für die Liebe, für die Freundschaften, die ich
erlebt habe. An bestimmten Stellen habe ich das Leben verraten, aber man
hat mir vergeben. Und neue Möglichkeiten gezeigt. Ich entdecke die Risse im
eigenen Leben und will vor ihrer Entdeckung nicht zurückschrecken. Wer lebt
und liebt und sich nicht vor dem Leben geschützt hat, hat seine
Niederlagen, solche, die er erlitten hat, und solche, die er verursacht
hat.
Was verstehst du darunter?
Wenn ich mein Leben überdenke, komme ich über meine Scham nicht hinweg.
Darüber, was ich falsch gemacht habe. Ich will ein Beispiel nennen. Ich war
13 Jahre in einem Kloster. Ich habe es verlassen, ich habe meine Brüder
allein gelassen. Ich habe ihnen etwas angetan.
Ein Bedauern, weggegangen zu sein?
Nein, es war ja mein Weg. Trotzdem: Ich habe es meinen Brüdern angetan.
Vielleicht ist Scham nicht das richtige Wort. Vielleicht beschreibt Scham,
wo der Mensch hätte handeln sollen und nicht gehandelt hat. Ich schäme mich
etwa, dass ich irgendwo die Wahrheit verweigert habe. Eine Hilfe verweigert
habe, die ich hätte leisten können. Wer wirklich gelebt hat, wird sich wohl
an viele Stellen des Verrats erinnern. Es gehört zur Würde des Menschen,
vor sich selbst die Augen nicht zu verschließen. Scham oder Reue sind
Begriffe der Größe und Schönheit des Menschen. Es ist mir erlaubt, ein
Verwundeter zu sein. Es ist mir gar erlaubt, Fragment zu sein.
Das klingt bescheiden. Ist es so gemeint?
Die Qualität des Lebens liegt nicht in der gelungenen Ganzheit, nicht dass
ich ein mustergültiger Ehemann, Vater, Lehrer, Staatsbürger bin. Es gibt
auch die Gnade einer gelungenen Halbheit. Das sage ich gegen allen
Ganzheitsterror, den manchmal die Kirchen, manchmal noch mehr die
Gesellschaft ausüben.
Die Ansprüche vieler an sich selbst sind zu hoch? Plädierst du für
Nachsicht?
Es gibt ja, materiell gesehen, die Armen, die noch mit ganz anderen
Problemen hadern. Ich verstehe, dass sie am Ende ihrer Leben verzweifelt
sind. Ich meine jedoch hier die anderen, die Undankbarkeit auf hohem Niveau
kultivieren und immer noch fragen: War das alles? Sie bringen es nicht
fertig, einfach Ja zu ihrem Leben in seiner ganzen Halbheit zu sagen.
Der Schweizer Psychoanalytiker Paul Parin äußerte als schon sehr alter
Mann, er habe keinen Sinn für Schmerzen, die mit dem Alter einhergehen. War
das zu profan empfunden?
Es gibt Schmerzen, Verluste, die selbstverständliche, unangenehme Begleiter
des Alters sind. Es kann schon sein, dass wir Alten uns fesseln lassen,
sodass wir nichts anderes mehr wahrnehmen als uns selbst. Es ist nicht
leicht, dieser Selbstfesselung zu entkommen. Auch im Alter noch mehr
wahrnehmen zu können als sich selbst, das wäre Freiheit.
Du kommst nicht aus den bildungsbürgerlichen Verhältnissen, in denen du als
Erwachsener meist gelebt hast. Wie war dein Weg?
Ich komme aus dem Saarland, aus der Arbeiterkultur. Mein Vater war
Buchhalter, er hat in einem großen Stahlwerk gearbeitet. Alle haben
unglaublich viel gearbeitet. Für Bücher gab es kaum Geld noch Zeit. Es war
eine Welt der Kargheit.
1933 geboren, zu Beginn der Nazizeit.
Meine Familie war nicht in der Partei und nicht nazifreundlich, der
selbstverständliche katholische Glauben war ein gewisser Schutz. Aber
irgendeine Form des Widerstands war undenkbar.
In welcher Hinsicht war es eine karge Welt?
Es war keine Welt bitterer Armut. Doch für das, was über die unmittelbare
Daseinsvorsorge hinausgeht, war wenig Platz. Es war eine konservative Welt,
in der man nur schwer Alternativen und Neues denken konnte. Fantasie war
nichts, was zählte, Neugier eines Menschen wurde mit Skepsis begegnet. Die
Angst im ungesicherten Leben saß allen tief in den Knochen.
Wie hast du es geschafft, neugierig zu sein?
Das war ein zäher Weg. Man musste ja auch das Wünschen lernen, später das
Zweifeln. In mir wuchsen Wünsche nach dem Lernen, nach Büchern, nach Musik.
Bist du deshalb als 22-Jähriger ins Kloster gegangen?
Wir lebten in der Zeit des Wirtschaftswunders. Die Menschen und die Autos
wurden dicker. Es gab kaum eine Erwähnung der Nazizeit oder gar eine
Auseinandersetzung mit ihr. Das Kloster war für mich ein Ort erlaubter
Weltflucht. Wir haben dort einen Platz für unsere Wünsche gefunden: ein
einfaches Leben, befreit von den Überflüssigkeiten, die Zusammenarbeit mit
Menschen gleicher Wünsche und gleicher Gesinnung.
Das einfache Leben …
… hat mich wohl am meisten angezogen. Nichts Opulentes, morgens eine
Scheibe Brot mit Marmelade, gelegentlich ein Glas Wein oder eine Flasche
Bier. Nichts war grenzenlos, und das gab einen Rahmen von Freiheit, um
denken zu können, gemeinsam mit anderen. Pier Paolo Pasolini sagte einmal
den schönen Satz, überflüssige Dinge machen das Leben überflüssig.
Ein Kloster, ein Aussteigerdomizil: Ist man als Klosterangehöriger nicht
auch uniformiert?
Ja, die Mönche waren nicht nur sie selbst, sie waren auch Typen. Man war
von der Last frei, immer man selbst sein zu müssen, eine Chance und eine
Gefahr gerade für junge Menschen. Diese typisierte Gruppe war übrigens der
Ort für viele Originale.
Hattest du kein Heimweh nach deiner saarländischen Welt?
Nein, ich habe gesehen, was zerbrechen musste an dieser Welt, weil sie sich
überlebt hat und weil sie viele Menschen zu Opfern gemacht hat.
War im Kloster, in der Kirche der Nationalsozialismus ein Thema?
In den Kirchen wie in fast allen Institutionen wurde über die Nazizeit
zunächst geschwiegen. Aber dann wurden die kirchlichen Orte, die
Kirchentage, die Akademien, die Orden Stellen der besonderen und stetigen
Aufmerksamkeit für das Thema. Aus dieser Zeit kam ich 1962 erstmals nach
Israel.
Was hattest du erwartet – und was dort erfahren über die deutsche Schuld?
Ich hatte in Israel sehr rasch Freunde und Freundinnen. Über deutsche
Schuld hat man wenig gesprochen. Aber ich sah sie leibhaftig an den
Menschen. Da war der Freund, so alt wie ich, der mit zehn Jahren nach
Auschwitz kam. Da war der schwule Lehrer, der 1944 monatelang mit einer
Jugendgruppe versteckt war, bis sie in die Schweiz entkommen konnten. Ich
erlebte nicht nur ihre Wunden. Ich erlebte auch ihren Hunger nach der alten
Kultur. Die Menschen sparten, um die Matthäuspassion in der Nähe von
Jerusalem zu hören. Sie machten lange Wege, um eine Aufführung von
Schillers „Wilhelm Tell“ zu erleben. Bei vielen war eine merkwürdige
Sehnsucht nach einem Land, das sie verjagt hatte!
Mit dem Sechstagekrieg 1967 orientierte sich die internationale Linke um –
hin zu einer Kritik an Israel und seiner Politik gegenüber den
Palästinensern. Hast du das mitvollziehen wollen?
Ich habe Israel geliebt und habe erst langsam das Leiden der Palästinenser
in den Blick bekommen. So lernte ich beinahe widerwillig, dass die Linken
mit ihrer Kritik an Israel recht hatten. Was mich damals jedoch störte, bei
einigen linken Gruppierungen, war die Geläufigkeit dieser Kritik. Ich denke
zum Beispiel an die Evangelischen Studentengemeinden. Sie waren fast alle
links. Das ehrte sie. Aber es war an der Tagesordnung, israelkritisch zu
ein.
Und die Kufiya, das palästinensische Halstuch, zu tragen wurde Mode.
Ja. Mit der jüdischen Kippa haben sich nur wenige in die Gruppen und
Veranstaltungen der Studentengemeinden getraut. Israelfreundliche Gruppen
haben diese Haltung leichtfertig „antisemitisch“ genannt. Aber
bemerkenswert war schon, worauf die Studierenden vorrangig aufmerksam
wurden. Übrigens, und das nicht nur nebenbei, ist es auch leichtfertig, wie
oft der Titel „antisemitisch“ vergeben wurde und wird.
Wir sind jetzt in der Zeit nach dem 7. Oktober, den Massakern der Hamas an
Israel. Welche Vision hättest du, denkst du heute an Israel?
Das große Wort Visionen kommt einem heute nur schwer über die Lippen. Aber
wo einem die Hoffnung abhandenkommt, kann man wenigstens so tun, als hoffte
man. Vielleicht ist auch dies eine Form der Hoffnung. Unseren Trost und
unsere Unerbittlichkeit brauchen die verfeindeten Gruppen. Sie brauchen
beide die Schärfe unserer Kritik. Sie brauchen in gleicher Weise unsere
Hilfe.
Ich möchte mit dir auch über die Kirche sprechen. In den sechziger Jahren
hast du Dorothee Sölle kennengelernt, eine der prominentesten evangelischen
Theologinnen ihrer Zeit, die ihr Christsein ausdrücklich und öffentlich
bekundet politisch verstand – ganz im Geist der Achtundsechziger. Nicht
allen war euer Furor auf Kirchentagen und in den Gemeinden sympathisch.
Wir waren jung und im Aufbruch, vielleicht manchmal zu selbstbewusst. Wir
sind leider nicht als abgeklärte Greise zur Welt gekommen. Wir mussten
lernen, wir mussten unsere Irrtümer begehen und aus ihnen klüger werden.
Wir waren fasziniert von den Fehlern unserer Kirchen – und wir haben
verkannt, welche Schönheit in ihr zu entdecken war. Ich bin stolz auf die
Streite, die wir ausgefochten haben. Aber wir hatten unsere Fehler, und wir
waren noch nicht klug genug, diese zu erkennen und zu benennen.
Was heißt das konkret?
Sprechen wir über das Gebet. Viele der linken Freundinnen und Freunde
hatten es damit schwer.
Was hatten sie an Gebeten auszusetzen?
Viele glaubten, dass ein Gebet von der politischen Handlung ablenkt oder
sie ersetzt. Aber sie konnten die Schönheit und die Poesie dieser Akte
nicht schätzen. So kam es in unseren Politischen Nachtgebeten in Köln immer
wieder zu Auseinandersetzungen über das Gebet, mit der Hauptfrage: Was
nützt es? Aber man kann eine poetische Schönheit nicht nach ihrem Nutzen
befragen, ebenso wenig wie ich bei einem Kuss fragen kann, was sein Nutzen
ist.
Und heute, welche Kirche wünschst du dir?
Keine, aus der heraus ein Petersdom geschaffen würde. Ich wünsche mir eine
Kirche, die Einfluss will, aber auf Macht verzichtet; eine Kirche, die sich
nicht gegen andere positioniert, sondern die Mitspielerin ist im großen
Spiel um die Gerechtigkeit und Freiheit; eine Kirche, die fähig ist, den
Namen Gottes zu nennen und auszulegen.
Die katholische Kirche steht ja in der öffentlichen Kritik, seit einigen
Tagen verstärkt auch die evangelische Kirche, Stichwort sexueller
Missbrauch.
Ich weiß darum, selbstverständlich. Alle Untaten müssen aus dem Zwielicht
ins Licht gerückt werden. Aber meine Sorge ist, dass vor allem der
Katholizismus nur noch mit Missbrauch verbunden wird. Katholizismus ist
reich an Symbolen, Geschichten, an Gesten und gemeinschaftsstiftenden
Bildern – das soll nicht unterschlagen werden.
Der Einfluss der Kirchen hat stark abgenommen.
Wäre ich jünger, viel jünger, würde ich diesen Befund als Chance nehmen,
als Gnade, sich auf seine Wurzeln zu besinnen. Es ist Zeit, dass Christen
und Christinnen sich besinnen auf die Schönheit und den Reichtum im eigenen
Haus. Es gibt nicht viele Gruppen, die so etwas wie die Bergpredigt im
Gepäck haben. Diese Kirche braucht keine Arroganz, aber sie braucht Stolz.
Du meinst Katholiken und Protestanten?
Fragt man mich, welchen Unterschied es zwischen Katholischem und
Evangelischem gibt, würde ich antworten: Ich sehe keinen, ich weigere mich,
die angeblich wichtigen Details stärker zu machen, als sie für die
einzelnen Christen und Christinnen sein können.
Was bleibt dir, bald hoffentlich 91 Jahre, zu sagen?
Ich habe es aufgegeben, mich zu durchschauen.
29 Nov 2023
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