# taz.de -- Rhythmische Sportgymnastik: Postsowjetisch, mit Lippenstift

> Der Deutsche Turner-Bund stellt mit Darja Varfolomeev eine der besten
> Gymnastinnen der Welt. Die harte russische Schule ist ihr erspart
> geblieben.
Wenn man ein Ziel hat, kann man alles schaffen.“ Ein Satz, wie ihn der
Sport liebt. Er stammt von der 16-jährigen Gymnastin Darja
[1][Varfolomeev], die bei der WM Ende August alle fünf zu vergebenden Titel
gewann. Ein „wahnsinnig gutes Ergebnis,“ urteilte danach Trainerin Yuliya
Raskina, und Thomas Gutekunst, Sportdirektor des Turner-Bundes, erklärte,
das sei „großartig für die RSG in Deutschland“, die Rhythmische
Sportgymnastik.

„Das Ziel hatte ich schon, als ich ganz klein war, ich habe meinen Traum
immer verfolgt“, sagt Darja, die von allen Dascha genannt wird. Als sie
ganz klein war, gerade drei Jahre alt, hatte Mutter Tatjana, die selbst als
Gymnastin eher erfolglos geblieben war, ihre Tochter zur Rhythmischen
Sportgymnastik geschickt. Das war in Barnaul, der Hauptstadt der Region
Altai in Westsibirien, sechs Zeitzonen von Deutschland entfernt.

„Am Anfang hat es mir nicht so gefallen, weil ich mit drei Jahren einfach
nicht verstanden habe, was ich da mache,“ erzählt Dascha [2][in einem Video
des Deutschen Turner-Bundes]. Doch sie begann zu verstehen und trainierte
weiter. Doch im Zentrum der Gymnastik in Moskau wurde niemand auf sie
aufmerksam. Anders in Deutschland, wohin die Familie ein Trainingsvideo
geschickt hat. „Das Urteil hat uns zunächst überrascht, dann gefreut. Es
lautete in etwa 'am liebsten sofort’“ erinnert sich Vater Dmitri in einem
Interview mit dem Fachmagazin [3][Leon].

So präsentierte sich im Sommer 2018 ein elfjähriges Kind aus Sibirien im
deutschen RSG-Zentrum in Schmiden. Yuliya Raskina erinnert sich an den
Anruf ihrer Mutter Natalja, die dort ebenfalls als Trainerin arbeitet: „Das
erste Training mit Dascha war mit meiner Mutter, sie hat mich sofort
angerufen und gesagt: Yuliya, das Mädchen ist sehr schön!“ Im DTB-Video
sagt Darja Varfolomeev, der Anfang sei sehr schwer gewesen: „Wofür mache
ich das, will ich das überhaupt?“, habe sie sich gefragt. Nach einem Monat
trat ihre Mutter die Heimreise an, das Kind zog ins Schmidener Internat.
„Da war ich nur mit meinem Koffer, ohne Familie, ohne Sprache,“ erinnert
sich Varfolomeev. Um 6 Uhr morgens sei sie alleine aufgestanden, um den Bus
zum Deutschkurs zu nehmen.

Die Formalitäten waren dank eines deutschstämmigen Großvaters schnell
geregelt, noch 2019 ging sie für Deutschland an den Start. „Es hat sich
gezeigt, dass sich die ganze Arbeit gelohnt hat,“ sagte Varfolomeev nun
rückblickend. Die ganze Arbeit, das sind zwischen fünf- und siebeneinhalb
Stunden am Tag, in den Ferien trainiere man zwei Mal dreieinhalb bis vier
Stunden täglich, erklärte Cheftrainerin Raskina. Varfolomeev bezifferte den
Trainingsaufwand in der WM-Vorbereitung gar auf „fünf Stunden vormittags
und vier Stunden nachmittags“. Immerhin: Sonntags ist frei.

Unter Raskinas Fittichen sind aktuell außerdem Margarita Kolosov aus
Potsdam und Anastasia Simakova aus Omsk, die ab März kommenden Jahres für
Deutschland startberechtigt sein wird. Die aus Minsk stammende Raskina –
selbst Vize-Olympiasiegerin 2000 – betont, die erste Sprache im Training
sei „natürlich“ Deutsch.

Vor den Erfolgen Varfolomeevs hatte das Schmidener Zentrum zuletzt 2014 für
Schlagzeilen gesorgt, als Katerina Luschik Ohrfeigen, Essensentzug und die
Verabreichung verschreibungspflichtiger Antibiotika öffentlich gemacht
hatte. Luschiks aus Kiew stammende Eltern erstatteten Anzeige, die
Staatsanwaltschaft sah den Tatbestand gemeinschaftlicher gefährlicher
Körperverletzung als erwiesen an. Trainerin Natalia Stepanova aus Belarus
und Teamchefin Karina Pfennig aus der Ukraine mussten ebenso gehen wie die
belarussische Cheftrainerin Galina Krilenko, der von einer anderen
Gymnastin Handgreiflichkeiten vorgeworfen worden waren.

## Eltern, die russische Wurzeln haben

Wie die Trainerinnen haben auch die besten deutschen Gymnastinnen seit
Jahrzehnten mehrheitlich einen postsowjetischen Hintergrund. Für Yuliya
Raskina kein Zufall: „Ich denke, das liegt an den Eltern, wenn sie
russische Wurzeln haben, bringen sie die Kinder zur Gymnastik und sie sind
bereit, viel zu geben, denn in der RSG muss man sehr viel Zeit und Geduld
investieren.“ Ihre Erfahrung ist, dass weniger deutsche Eltern dazu bereit
sind. „Gymnastik ist in Russland wie der Fußball in Deutschland,“ sagt
Raskina, um die Popularität der Sportart zu verdeutlichen.

Doch das ist nicht alles: Die Rhythmische Sportgymnastik wurde in der
Sowjetunion erfunden und seit der Jahrtausendwende von der russischen
Verbandspräsidentin und Cheftrainerin Irina Viner weitestgehend beherrscht.
Als Gattin des Oligarchen und langjährigen Präsidenten des
Weltfechtverbandes Alisher Usmanow – von dem sie offiziell geschieden
wurde, als er im vergangenen Jahr kriegsbedingt auf Sanktionslisten landete
– verfügte sie über Macht und Geld. Ihr Einflussbereich reicht weit über
Russland hinaus, arbeiten doch nicht nur in Deutschland seit dem Zerfall
der Sowjetunion Trainerinnen aus ihrer Schule.

So hatte die exzentrische Viner auch Einfluss auf die Gestaltung der
Wertungsvorschriften, also darauf, wie die ideale Gymnastin auszusehen
hat. Es ist ein Schönheitsideal – und damit nicht zuletzt ein Frauenbild –,
in dem sich Mädchen mit rot geschminkten Lippen und nicht selten extrem
dünnen Körpern in glitzernden Kostümen mit Rüschen verbiegen und zur Musik
lächeln. „Du bist wunderschön mit Deinen Kulleraugen, aber Du zitterst wie
ein Stück Scheiße. Weil Du eine dämliche fette Kuh bist! Fuck you!“ –
schreit Viner die spätere Olympiasiegerin von 2016 Margarita Mamun in der
sehenswerten arte-Dokumentation „Jenseits des Limits“ an.

Die Olympiasiegerin von 2004 Alina Kabajewa, mittlerweile als mutmaßliche
Geliebte Putins selbst auf Sanktionslisten, berichtete immer mit Stolz, in
ihrer aktiven Zeit tagelang nur Wasser zu sich genommen zu haben. Von 1995
bis zur kriegsbedingten Sperre 2021 haben russische oder ukrainische
Gymnastinnen alle Mehrkampf-Weltmeisterinnen gestellt. Im vergangenen Jahr
gewann Sofia Raffaeli aus Italien, wo nach etlichen Schilderungen über
Essensentzug aktuell eine Debatte um missbräuchliche Trainingsmethoden im
Gange ist.

Der DTB hatte nach dem Luschik-Skandal unter anderem die Waage aus der
Halle verbannt. Yuliya Raskina, die 2022 vom DOSB zur Trainerin des Jahres
gekürt wurde, erklärte jüngst in einer Dokumentation über Essstörungen im
Leistungssport, sie wiege ihre Athletinnen nicht: „Dieser Druck muss nicht
sein.“ Auf Nachfrage zu Varfolomeev, die aus Haut und Knochen zu bestehen
scheint, sagt Raskina: „Sie hat von Natur aus so eine schöne Figur.“

Im [4][Leistung-mit-Respekt-Projekt], das nach Berichten über
missbräuchliche Trainingspraktiken einen Kulturwandel zum Ziel erklärt
hatte, stand das Frauenturnen im Fokus. In der formulierten Maxime geht es
um „Kindeswohl“ und „eine gesunde Persönlichkeitsentwicklung“ in
Kombination mit internationalem Erfolg. DTB-Präsident Alfons Hölzl erklärte
dazu: „Wir müssen uns als Gesellschaft die Frage stellen: Welchen
Spitzensport wollen wir überhaupt?“

Varfolomeev erklärt, dass sie bei den Spielen in Paris „noch bessere
Leistungen“ zeigen will. In den vergangenen Jahren hat die amtierende
Mehrkampfweltmeisterin es immer auf das olympische Podest geschafft – gute
Aussichten also für den DTB.

23 Sep 2023

## LINKS
[1] /Archiv-Suche/!5955982
[2] https://www.youtube.com/watch?v=mUIIim2UXyA&t=254s
[3] http://www.leon-magazin.de/
[4] https://www.dtb.de/verbandspolitik/kultur-strukturwandel/leistung-mit-respekt
## AUTOREN
Sandra Schmidt
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