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Bochum taz | Niels trägt Jeans und Hoodie, als er die Treppe herunterkommt.
Er hat unsere Verabredung vergessen, gibt er zu und öffnet schnell ein
Fenster, damit der Zigarettengeruch aus dem Kneipsaal verschwindet. Wir
setzen uns an einen Tisch, der noch mit Korbschlägern, Kettenhemden,
Stoffgewändern und Metallhelmen bedeckt ist.
Niels, 22 Jahre alt, studiert Humanmedizin in Bochum und nennt sich, das
kommt so früh durchaus überraschend: Fan der Grünen. Er wohnt in einem
riesigen Haus, zusammen mit seinen Bundesbrüdern, ein paar davon sind auch
hier, alles Bochumer Studenten, von Heilpädagogik bis soziale Arbeit, von
Bauingenieurwesen bis BWL ist alles dabei. Sein Mitbewohner Henri etwa
studiert Lehramt. Sie sind Korporierte, Burschen ihrer Landsmannschaft, der
[1][Ubia Brunsviga Palaeomarchia], einer pflichtschlagenden
Studentenverbindung in Bochum. Jedes Mitglied hier muss fechten, aus
Tradition. Das hat schon der älteste Herr so gemacht und die Generation
davor auch.
Auf ihrer Website gibt sich die Verbindung modern und cool, beantwortet in
einer FAQ-Rubrik die Frage „Ihr fechtet? Warum?“ mit „Weil wir es können“.
Das Verletzungsrisiko sei dabei geringer als beim Fußball oder Boxen,
schreiben sie – und wer es selbst mal unter die Lupe nehmen will, soll
einfach vorbeikommen.
Womit wir hier sind: In ihrem Kneipsaal, einem mittlerweile nicht mehr ganz
so nach Zigaretten müffelndem Raum, an dessen Wänden ausgestopfte Füchse,
Flaggen, Wappen, Bänder, Mützen, Fechtschläger und vergilbte Porträts von
Männern hängen, die in den letzten 150 Jahren hier Burschen waren.
Niels nimmt sich Armschutz, Handschuh und Helm aus dem Wirrwarr an Sachen
auf dem Tisch und zieht sie sich über. Sein rechter Arm ist bis knapp unter
die Schulter geschützt, Handschuh und Stulp, so nennen sie den Armschutz,
fest miteinander verzurrt, kein Schnitt kann durchdringen und kein Schlag
verletzen. Der Helm reicht über den gesamten Kopf. Die Montur wirkt im
Vergleich zu der beim Sportfechten wie eine Ritterrüstung neben dem Anzug
von Iron Man. Aber was macht das schon, wenn sie ihren Zweck erfüllt?
Niels gegenüber steht einer seiner Bundesbrüder, genauso geschützt, beide
halten ihr Fechtgerät, den Schläger, in der Hand. „Hoch, bitte!“, ruft
Niels und sie strecken den Schläger in die Höhe. „Mensur – fertig – los!“,
ruft er, beide schlagen ihre Schläger gegeneinander und die Partie ist
eröffnet. Immer abwechselnd lassen sie ihren Schläger rüberzischen, treffen
mal den Stulp des anderen, mal die Klinge seines Schlägers. Ponk, klirr,
klirrr, ponk, klirr.
Nach zehn Hieben ist die erste Runde vorbei. Bei einer Mensur, dem Event,
auf das sich hier alle vorbereiten, würden 39 weitere folgen. Dann fechten
sie mit einem Burschen einer anderen Verbindung, einem geschliffenen
scharfen Schläger und deutlich weniger Schutz. Statt einem Helm tragen sie
dann, auch heutzutage noch, am Gesicht nur einen Halsschutz und eine
Metallbrille, Stirn und Wangen bleiben frei. Der Rest des Körpers ist dafür
gut geschützt. Und die auszuführenden Hiebe seien exakt vorgegeben sowie
stark begrenzt. „Wenn man alles richtig macht, kann da gar nichts
schiefgehen.“ Ein Satz, der hier öfter fällt.
Im Gegensatz zu anderen Kampfsportarten seien langfristige Schäden quasi
ausgeschlossen. Was bleiben könnte, sind Narben auf dem Kopf, die
legendären Schmisse. Früher wurden diese extra mit Rosshaaren oder Sand zum
Entzünden gebracht, als Zeichen der Verbindungszugehörigkeit. „Heutzutage
sind wir stolz, keinen Schmiss zu haben“, sagt Niels. Denn gerade das
zeige, alles richtig gemacht zu haben.
Aber es kann eben auch falsch laufen. In einer [2][Erlangener
Burschenschaft] ist erst Mitte Februar 2023 eine Mensur lebensbedrohlich im
Krankenhaus geendet. Gestorben ist keiner, aber warum machen sie das alles
überhaupt?
„Die Mensuren schweißen zusammen, jeder von uns musste da genauso durch“,
sagt Niels. Außerdem sei Fechten die Grundlage, gemeinsam Zeit zu
verbringen. Mehrfach in der Woche hätten sie Paukstunden, so nennen sie das
Training, da kämen alle zusammen, selbst die Bundesbrüder, die gar nicht
mehr im Haus wohnten. „Wenn ich bei der Mensur einen Helm aufhabe, hätte
ich gar kein Risiko mehr“, sagt Henri, „und dadurch auch keinen Anreiz, in
dem Ausmaß zu trainieren, dass ich nicht getroffen werde.“
Doch es gibt noch mehr Gründe: Micha, 23, studiert nach abgebrochenem
Jurastudium Meeresbiologie und ist in diesem Semester als Fechtwart einer
Hessischen Burschenschaft für die Organisation von Paukstunden und Mensuren
zuständig. Er sagt: Das Fechten diene auch dazu, bestimmte
Charaktereigenschaften auszufiltern. „Zögerliche brauchen wir in unserer
Verbindung nicht.“
Die Tage vor einer Mensur seien einfach Mist, da schlafe er schlecht, denke
die meiste Zeit an nichts anderes. Sich dennoch der Mensur zu stellen,
beweise, auch im sonstigen Leben Herausforderungen nicht zu scheuen. Micha
erzählt von seiner letzten Partie, gegen einen Linkshänder habe er antreten
müssen, immer ein Nachteil. Nach nur drei Runden sei die Mensur abgebrochen
worden. Verletzungsfrei für ihn, blutend für den anderen.
Micha holt sein Handy raus, zeigt ein Foto, darauf der Kontrahent kurz nach
seiner Behandlung. Sein gesamter Schädel ist verbunden, an der Seite ein
großer Fleck, blutrot. Er zeigt noch ein Foto, gleicher Mensurtag, anderer
Bursch, auch verletzt, Blut läuft an seiner Wange herunter, die Stirn ist
nicht einmal verbunden.
„Rein sinngebunden kann es nicht zeitgemäß sein, sich mit scharfen Waffen
aufs Gesicht zu schlagen“, sagt Micha. Er könne es nicht rational erklären,
aber: „Es macht irgendwie Bock.“ Bei der Mensur sei jeder für einen da,
jeder Zoff vergessen, er könne sich ausprobieren und messen.
Bald tritt er seine vierte Mensur an. Und plant schon jetzt, wen er danach
noch freiwillig auffordern könnte. Zusehen lässt Micha dabei nicht mal
seine Familie, es könne eben doch was passieren. Seine Schwester dürfte
auch gar nicht zugucken – denn sie ist kein Mann. Der Besuch von
hochoffiziellen Veranstaltungen wie Mensuren ist, genau wie die
Mitgliedschaft selbst, in den meisten Verbindungen nur Männern erlaubt.
Micha hat dafür verschiedene Erklärungen. „Manchmal sollten Männer einfach
Männer sein können“, sagt er. Ohne anwesende Frauen könnten sie mehr sie
selbst sein. Und: „Frauen müssten bei uns auch fechten. Dann wärst du
entweder der Depp, der ’ne Frau verletzt hat – oder der, der von ’ner Frau
fertiggemacht wird. Willst du beides nicht.“ Außerdem sei das Potenzial für
Liebesdrama in gemischten Verbindungen viel höher. Homosexuelle Männer,
sagt er auf Nachfrage, seien willkommen: „Dann müssen wir halt am Anfang
dazusagen, dass sie hier mit keinem was anfangen sollen.“
Ob heutige Männerverbindungen in Zukunft gemischt werden könnten? Wohl
nicht, solange noch genügend Burschen dem bestehenden System beitreten. In
Michas Verbindung wie in Bochum versuchen sie den Spagat zwischen Moderne
und Tradition zu meistern – vor allem, indem sie selbst überdenken, was
noch up to date ist. Wie gut das funktioniert, messen sie hauptsächlich an
dem Zulauf von neuen Mitgliedern.
Jedes neue Mitglied könne sofort demokratisch Veränderungen anregen, sagt
Niels, und ein paar Kleinigkeiten seien auch schon verbessert worden. Doch
wer Männerbünde mit Mensurpflicht nicht unterstützt, wird diesen auch nicht
beitreten. Grundsätzliche Strukturen lassen sich also schwer verändern.
Stattdessen ist es viel wahrscheinlicher, dass Mitglieder beitreten, die
die alten Werte vertreten und konservativer sind. Für Verbindungen ist
gerade das aber eine Gefahr. [3][Spätestens seit 2011] eine Bonner
Burschenschaft bei ihrem Dachverband, der [4][Deutschen Burschenschaft
(DB)], beantragt hat, eine Art Ariernachweis einzuführen, müssen sich
Verbindungen entscheiden: Sie sind entweder rechtsextrem oder distanzieren
sich stark davon.
Etwa die Hälfte der Burschenschaften sind seitdem aus der DB ausgetreten.
Michas Verbindung entschied sich kurz vor dem Bonner Vorfall für einen
Austritt. Die aktiven der knapp 70 jetzt noch bestehenden
DB-Burschenschaften seien seiner Meinung nach überwiegend „stramm rechts“
und fänden dieses Image auch noch ziemlich cool. Die Bochumer
Studentenverbindung gehört als Landsmannschaft schon immer einem anderen
Dachverband an. Von verfassungswidrigem Gedankengut würden sie sich
deutlich distanzieren und sofort Hausverbot aussprechen, falls es zu einem
Vorfall kommt. Das haben sie in der Vergangenheit auch schon getan. Die DB
selbst reagierte auf keine Anfrage.
Während die verschiedenen Verbindungstypen in ihrer Entstehungsgeschichte
abweichen, sind die Unterschiede heute geringer. Noch mehr als bei
Landsmannschaften ist in Burschenschaften politisches Interesse, manchmal
sogar eine Parteimitgliedschaft, verpflichtend. Konkrete Parteien sind
dabei nirgendwo vorgegeben. Gerade die AfD scheint aber, wie sich an
Werbungen in der DB-Mitgliedszeitschrift zeigt, durchaus an Kontakten in
die Burschenschaften interessiert zu sein.
Die Bochumer Jungs kommen längst nicht so konservativ rüber, wie man sich
das vorstellen würde. Sie alle wirken genauso cool wie die Texte auf ihrer
Website, wie normale Studenten, die eben viel Zeit zusammen verbringen. In
einem Haus, das – von Kneipsaal bis Kinoraum – gut veranschaulicht, wie
Tradition und Moderne hier auseinander- oder zusammenfallen können.
Das Verbindungshaus ist alt, es hat noch einen Telefonraum, mittlerweile
eine Rumpelkammer, außerdem Toiletten ohne Ende, auch extra für Damen, die
bei weniger offiziellen Veranstaltungen durchaus gern gesehene Gäste sind.
In der ersten Etage haben sie sich ein neues Kinozimmer eingerichtet,
finanziert von den Ehemaligen, außerdem eine schicke Küche, im Keller
entsteht gerade ein Discoraum. Und dann gibt es im Erdgeschoss den
Kneipsaal, Kernstück und das Altertümlichste der ganzen Verbindung. Hier
wird gefochten und getrunken. Im Keller gibt es sogar eine Zapfanlage.
Ob sie saufen bis zum Umfallen, wie man sich das stereotypisch vorstellt?
Auf ihrer Website schreiben die Bochumer dazu: „Wir fallen nicht mehr um.“
Bei unserem Treffen ist die Antwort differenzierter: Auch wenn sie gern mal
Bier tränken, sei das längst kein Muss mehr. „Ich habe ein Semester lang
komplett auf Alkohol verzichtet“, sagt Mitbewohner Henri, „das war auch
kein Problem.“
Während Micha über das gleiche Thema am frühen Nachmittag spricht, trinkt
er ein großes, alkoholfreies Weizen. In seiner Verbindung werde durchaus
getrunken, sagt er. Manchmal, um sich zu versöhnen, auch schnell auf ex.
„Bierjunge“ würden sie das dann nennen. Aber das seien nur
0,25-Liter-Gläser. „Und wenn einer sich nur noch besäuft, sprechen wir den
da auch drauf an.“
Der Umgang mit Alkohol scheint bei Micha und Niels ähnlich wie unter den
meisten Studierenden in Deutschland. Generell deckt sich vieles von dem,
was Micha und Niels erzählen – aber nicht alles. Am Größten unterscheiden
sich ihre Ansichten bei Jobvorteilen, die durch die Verbindungen entstehen.
Micha erzählt unter anderem von einem Ehemaligen aus der Politik. „Wenn der
mal Stellen zu vergeben hat, schickt er uns die zu, sobald die
veröffentlichungsreif sind. Ein, zwei Tage später werden die ohnehin
veröffentlicht. Aber unsere Bewerbungen landen dann auf jeden Fall auf
seinem Tisch und werden mit zuerst behandelt.“
Unfair findet er das nicht, sieht das eher als eine Win-win-Situation.
„Natürlich ist das für die anderen ziemlich schlecht, wenn ich den Job nur
dadurch kriege, dass ich den kenne. Aber das läuft doch überall so, in
jedem Bereich bist du ohne Kontakte aufgeschmissen. Und die, die mich
einstellen, wissen dann schon, dass sie sich auf mich verlassen können.“
Klar könne er auch wie andere hundert Bewerbungen schreiben. „Aber warum?“
## Ein Leben lang verbunden
Die Bochumer sehen das anders, Niels sagt: Dass Mitglieder einfacher an
Jobs kommen, habe er bei ihnen noch nie erlebt. „Ich will ja auch eine
Stelle kriegen, weil ich sie verdient habe, und nicht nur, weil ich die
Person kenne, die sie vergibt.“
Den Grundsatz, der hinter etwaigen Jobvorteilen steht, gibt es aber in
beiden Verbindungen. Sie nennen ihn Lebensbundprinzip, es geht darum, dass
jeder sein Leben lang in der Verbindung bleibt. Die Vorteile davon können
auch ganz unkritisch sein: Letztens beispielsweise habe er einen Ehemaligen
mit zwei Doktortiteln und drei Professuren getroffen, um Probleme mit
seinem Nebenfach Chemie zu klären, erzählt Micha.
Was diesen lebenslangen Zusammenhalt stärkt, ist auch das Fechten. Was ihn
sichtbar macht, ist die Couleur, das Verbindungsdress. Selbst wenn einer
Jahre weg gewesen sei, können sie an seinem Band sofort erkennen, dass er
zu ihnen gehört, sagt Niels. Ob er mal zeigen kann, wie er in Couleur
aussieht? Aber klar!
Er verschwindet für fünf Minuten, dann kommt er wieder, gekleidet wie im
Film. Anzugschuhe, Anzughose, Hemd, Weste, Sakko. Über die rechte Schulter
sein Band, blau-weiß-schwarz, Verbindungsfarben. Unten dran ein mehrere
Zentimeter großer Knopf mit Wappen der Landsmannschaft. Der sei aus
Echtsilber, sagt Niels, genau wie die Außennaht des Bandes. An seiner Hose
hängt eine Art Miniband, das sei der Bierzipfel, ebenfalls klassischer
Bestandteil der Couleur. Und dann hat er noch die Mütze, die kann jeder
sofort erkennen.
In der Nachkriegszeit hätten sie das Band immer in der Uni tragen müssen,
sagt Niels, bis zum Anfang des 21. Jahrhunderts auch noch im Haus.
Mittlerweile zieht er sein Verbindungsdress nur noch ein paar Mal im
Semester an. Ansonsten kleidet er sich wie jeder andere Student – in Jeans
und Hoodie.
28 Mar 2023
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