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Erfurt taz | Noch bevor Janine Wissler am Freitagmittag das erste Wort
gesprochen hat, bricht tosender Applaus auf. „Wow, vielen Dank dafür“, sagt
die Linken-Vorsitzende überrascht. Dass die Delegierten des Erfurter
Parteitags der Linken ihrer Vorsitzenden so demonstrativ den Rücken stärken
würden, damit hat nicht nur sie nicht gerechnet.
Rund vierzig Minuten spricht Wissler zur Eröffnung des dreitägigen Events
in der Thüringer Landeshauptstadt. Es ist eine selbstkritische, aber auch
kämpferische Rede. „Es kommt darauf an, sie zu verändern, ist das Motto
dieses Parteitags“, ruft sie in den Saal. „Das gilt für die Welt und auch
für uns als Linke.“
Wer kämpft, könne verlieren, bemüht Wissler Bertolt Brecht. „Aber zur
Wahrheit gehört, dass wir in den letzten Jahren häufiger verloren haben als
es zu verschmerzen gewesen wäre“, fügt sie hinzu. Die Linkspartei befinde
sich in einer tiefen Krise und hinterlasse immer wieder den Eindruck, „als
wären die Kämpfe untereinander wichtiger als die für unsere politischen
Ziele“.
Die Linke müsse ihre Rolle „als einzige sozialistische
Gerechtigkeitspartei“ finden. Zu oft sende die Partei widersprüchliche
Botschaften aus, so dass vielen nicht mehr klar sei, für was sie stehe. Sie
müsse wieder gemeinsam zu klaren Botschaften kommen. „Wir sollten nicht die
eigene Wähler- und Mitgliedschaft polarisieren, sondern zwischen uns und
dem politischen Gegner“, fordert Wissler. Linke Politik müsse „provozieren,
polarisieren und zuspitzen, immer entlang von ‚oben‘ und ‚unten‘ und
niemals von ‚unten‘ nach ‚noch weiter unten‘“. Die Ampel-Koalition lasse
„viel Platz“ für eine linke Politik.
## Wagenknecht dürfte es schwer haben
Auch auf den Umgang mit den MeToo-Vorwürfen in der Linkspartei geht
Wissler ein. „Sexismus ist ein gesamtgesellschaftliches Problem, der
Anspruch an uns, als feministische Partei, ist aber zurecht höher als an
andere“, sagt sie. „Bei allen Frauen, denen wir bisher nichts oder wenig
anbieten konnten, wenn ihnen Unrecht widerfahren ist, möchte ich mich
aufrichtig entschuldigen.“ Inzwischen habe der Parteivorstand eine
unabhängige Expertinnenkommission eingesetzt. Auch sie selbst habe in den
letzten Monaten nicht alles richtig gemacht, räumt Wissler ein. „Aber ich
will euch versichern, dass das, was ich getan habe, in bester Absicht war.“
Das war der eine Teil ihrer Rede. Im anderen schaltete sie auf Attacke:
Gegen Ungerechtigkeit in Deutschland, gegen die Politik der Ampelkoalition,
gegen die Klimakrise und gegen den „verbrecherischen Angriffskrieg“
Russlands in der Ukraine, der durch nichts zu rechtfertigen sei: „Unsere
Solidarität gilt Menschen in der Ukraine, die um ihr Leben fürchten, die
fliehen mussten, die Angehörige zurücklassen mussten, die alles verloren
haben.“
Wissler war in den vergangenen Woche scharfer innerparteilicher Kritik
ausgesetzt. Die frühere Bundestagsfraktionsvorsitzende Sahra Wagenknecht
hatte gleich in mehreren Interviews einen personellen „Neuanfang“ verlangt
– ein unverhohlener Aufruf zur Wahl der Gegenkandidatin Heidi Reichinnek.
Doch die dürfte es am Samstag, wenn die Neuwahl der Führungsspitze auf dem
Programm steht, schwer haben.
„Lasst uns mehr Sozialismus wagen“, beendet Wissler ihre Rede. Jubel
brandet auf. Sie hat offenkundig den richtigen Ton getroffen. Mit Standing
Ovations bedenken die rund 570 Delegierten die 41-jährige Hessin, die sich
sichtlich gerührt zeigt. Die Partei hat derzeit rund 58.000 Mitglieder.
Neben der Vorstandswahl wird am Samstag die Diskussion über die intern sehr
umstrittene Haltung zu Russland und dem Ukraine-Krieg im Mittelpunkt
stehen.
24 Jun 2022
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