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Viele großartige Schwimmer haben eine [1][Michael-Phelps]-Geschichte zu
erzählen, oft von einer Begegnung mit dem GOAT, dem Größten aller Zeiten,
bei der etwas von seiner schier übermenschlichen Größe auf sie
übergesprungen ist. Katie Ledecky etwa hat ein Foto, auf dem sie sich als
pubertierende 12-Jährige ein Autogramm von Phelps geben lässt.
Jessica Long hat auch eine solche Geschichte, aber ihre ist um vieles
bewegender. Long erinnert sich an eine besonders harte Trainingseinheit im
olympischen Trainingszentrum von Colorado Springs, wo sich die olympischen
und paralympischen Athleten 2016 gemeinsam auf Rio vorbereiteten. Long kam
als Letzte aus dem Wasser und schaffte es vor Erschöpfung kaum mehr zu
ihrer Tasche auf der Tribüne. Dort wartete Phelps auf sie, umarmte sie und
flüsterte ihr „Gut gemacht“ ins Ohr.
Die Geschichte war ein Ausdruck der Anerkennung und der Gemeinsamkeit. Hier
waren zwei Weltklasse-Sportler, die gerade einen harten Arbeitstag hinter
sich gebracht hatten. Für paralympische Sportler wie Jessica Long gibt es
solche Augenblicke nicht oft. Aller Lippenbekenntnisse zum Trotz werden sie
nur selten als vollwertige Athleten anerkannt. Und so war die Würdigung
durch den GOAT für Long mehr wert als alle ihre 23 paralympischen
Medaillen.
Wenn Jessica Long ab Samstag in Tokio ins Becken springt, sind das ihre
fünften Spiele. Ihre Medaillenausbeute übersteigt schon jetzt die von
Phelps. So wie er einer der seltenen Schwimmer ist, der weit über ein
Fachpublikum hinaus dauerhafte Berühmtheit erlangte, ist Jessica Long die
wohl erste paralympische Schwimmerin, die das Zeug zu einem echten Star
hat. In den USA ist Long schon jetzt das Gesicht der paralympischen Spiele.
Die Sportmedien sind voller Features über sie, das TV-Netzwerk NBC drehte
einen Dokumentarfilm. Firmen wie Google laden sie seit Monaten ein, um für
die Angestellten Motivationsreden zu halten.
## Verdichtete Verkitschung
Das ganz große Publikum lernte sie bereits im Januar kennen, als Toyota
beschloss, sie zum Gesicht [2][ihrer 10 Millionen Dollar teuren
Superbowl-Werbung] zu machen. 100 Millionen Menschen bekamen live im
Fernsehen in etwas mehr als einer Minute Jessica Longs Lebensgeschichte
erzählt. Es ist eine Geschichte, die sich formidabel zu einer solch
verdichteten Verkitschung eignet.
Long wurde im Jahr 1992 als Tatiana Olegovna Kirillova in Bratsk, gut 600
Kilometer nördlich von Irkutsk, geboren. Ihre Mutter war damals 16 und sah
sich nicht in der Lage, ein behindertes Kind aufzuziehen. Also gab sie
Tatiana zur Adoption frei. Im Waisenhaus von Bratsk fanden sie die Longs,
eine tief christliche Familie aus Baltimore, die sie mit in die USA nahmen
und ihr die beste Versorgung zukommen ließen, die man sich nur vorstellen
kann.
Trotzdem war Jessicas Kindheit hart. Bis zu ihrem zehnten Lebensjahr war
sie mehr im Krankenhaus als zu Hause. Eine Operation folgte auf die andere.
„Ich glaube, es war in dieser Zeit, dass ich gelernt habe zu kämpfen und
niemals aufzugeben.“ Die Jugend war schwer für Jessica. „Ich habe mich
immer gefragt: Warum ich? Warum wollten mich meine Eltern nicht haben?
Warum bin ich mit dieser Behinderung auf die Welt gekommen.“
Eine Antwort fand sie nicht, aber sie fand das Wasser. Dort fühlte sie sich
stark und von allen respektiert. Und sie konnte ihren tief sitzenden Zorn
auf die Welt und auf ihre Eltern kanalisieren. So schaffte sie es, nachdem
sie bei ihren zweiten Spielen 2008 internationalen Ruhm erlangt hatte, die
schwere Reise nach Sibirien anzutreten und dort ihre biologischen Eltern
kennenzulernen. Man konnte zusammen weinen, die Eltern zeigten, wie sehr
ihnen alles leid tat, und Jessica konnte vergeben.
Im vergangenen Jahr hat Long geheiratet und nach Tokio, ihren wohl letzten
Spielen, wartet ein Leben als Trainerin und Rednerin auf sie. Es ist ein
Märchen mit Happy End, mit einer russischen Prinzessin, die sich weigerte,
sich von ihrem Schicksal besiegen zu lassen.
27 Aug 2021
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