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Die Fronten scheinen klar: Hier ein Spitzenverband, der öffentlich die
Entlassung seiner erfolgreichsten Trainerin fordert, dort ein Verein, der
sich mit Unterstützung Dutzender Eltern dagegenstemmt. Ins deutsche
Frauenturnen kommt endlich Bewegung, könnte man sagen, aber das wäre
angesichts der Lage eine Beschönigung. Was ist geschehen?
[1][Im vergangenen November waren Vorwürfe unter anderem von Pauline
Schäfer], Balkenweltmeisterin 2017, gegen Gabriele Frehse, die
Cheftrainerin am Bundesstützpunkt Chemnitz öffentlich geworden. Es ging um
missbräuchliche Trainingspraktiken, Erniedrigungen, Beleidigungen, Training
unter Schmerzen und die Vergabe von Schmerzmitteln – Vorwürfe, wie es sie
unter dem Hashtag #gymnastAlliance seit Sommer 2020 weltweit zuhauf gegeben
hat.
In vielen Ländern wurden Untersuchungen angekündigt, der DTB hat vergangene
Woche als einer der ersten Verbände Ergebnisse vorgelegt: Mit der Klärung
wurde eine Rechtsanwaltskanzlei beauftragt, die sich die verdienstvolle
Arbeit gemacht hat, den oft schwammigen Begriff der „psychischen Gewalt“
und entsprechende Verhaltensweisen zu definieren.
Es wurden 32, im Schnitt dreieinhalb Stunden lange Interviews, 800 Seiten
Protokoll sowie weitere Dokumente ausgewertet. Fazit: In 17 Fällen liegen
„hinreichende tatsächliche Anhaltspunkte für die Anwendung psychischer
Gewalt“ vor, Schmerzen wurden nicht ernst genommen, Schmerzmittel – in
einem Fall ein verschreibungspflichtiges Opiod – verabreicht. Allerdings:
Einige Befragte hätten „hauptsächlich positiv über die betroffene Trainerin
berichtet“, und auch andere, kritische, hätten „positive Seiten“ an Frehse
benannt.
Schon bei Bekanntwerden der Vorwürfe hatte sich Sophie Scheder,
Olympiadritte am Barren 2016 in Rio, die wie Schäfer schon als Kind ins
Chemnitzer Internat gezogen war, hinter ihre Trainerin gestellt. Der DTB
zog Konsequenzen aus der Untersuchung: Ihr Arbeitgeber, der
Olympiastützpunkt Sachsen, soll die Trainerin entlassen. [2][Es bestehe
zudem „struktureller Veränderungsbedarf“] sowohl mit Blick auf das
nationale Stützpunktkonzept als auch hinsichtlich sportpolitischer
Forderungen auf internationaler Ebene, zum Beispiel durch eine Anhebung des
Startalters.
## Kampfeslustiger Vereinspräsident
In Chemnitz ist das Entsetzen groß: Eltern von 25 aktuellen Turnerinnen,
darunter Kaderathletinnen und Anwärterinnen aufs Olympiateam, positionieren
sich in einem offenen Brief klar für die suspendierte Trainerin. Sie
beklagen, dass die Untersuchung andere Stützpunkte nicht betrachtet – in
der Tat liegen vergleichbare Schilderungen aus anderen Stützpunkten vor –,
verweisen auf eine einseitige Auswahl der Interviewten und fordern den DTB
auf, seine Entlassungsforderung zurückzunehmen.
Sie beteuern ihre guten Erfahrungen und ihr vollstes Vertrauen in den
Chemnitzer Stützpunkt und Gabriele Frehse, betonen indes, dass sie „andere
Wahrnehmungen“ von Athletinnen „in keinster Weise infrage stellen“. Aber
schließlich werde niemand gezwungen, in Chemnitz mit dem Trainerteam zu
arbeiten. Auch der Vereinspräsident [3][der TuS Chemnitz-Altendorf], Frank
Munzer, gab sich kampfeslustig: Man lasse nicht zu, dass die Trainerin „wie
eine Aussätzige vom Hof gejagt“ werde.
So weit, so verzwickt. Dahinter steht noch ein größeres Problem, eines, das
der weibliche Turnsport – und wohl nicht nur er – seit Jahrzehnten hat: Was
heute als psychische Gewalt und Bodyshaming identifiziert wird, nannte man
früher „inhumanen Kinderhochleistungssport“. Doch angesichts des Ausmaßes
der #gymnastAlliance-Bewegung kann heute niemand mehr von Einzelfällen
sprechen.
Es ist ein systemisches Problem. Und in diesem System ist die beschuldigte
Trainerin nur eines von vielen kleinen Rädchen. Der DTB ist vergleichsweise
schon ein größeres Rad. Sein Präsident Alfons Hölzl, der selbst mal Turner
war und Inhaber der A-Trainer-Lizenz ist, hat die entscheidende Frage nun
selbst gestellt: „Eine Goldmedaille bei Olympischen Spielen hat langfristig
keinen Wert, wenn ein Turner nachher beschreibt, welches Leid er erfahren
hat und welches fürchterliche Leben er gehabt hat. Wir müssen uns als
Gesellschaft die Frage stellen, welchen Spitzensport wollen wir überhaupt.“
28 Jan 2021
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