# taz.de -- Die Wahrheit: Die Schlucht um das u

> Neues aus der Rubrik „Sprachkritik“: Das Bild im Wort und seine
> Zusatzwerte scheinen im Deutschen verloren zu gehen.
„Auslegeware“, antwortete Loriot auf die Frage nach seinem Lieblingswort,
weil es „als Charakterisierung des Deutschen in Schlichtheit, Korrektheit,
aber auch Großzügigkeit nicht übertroffen werden“ könne. Wer genau
hinschaut, bemerkt noch etwas: Das Wort ist gewissermaßen selbst eine
Auslegeware, die Silbe für Silbe ausgelegt wird.

Loriot hatte 2004 an einer Umfrage des Deutschen Sprachrats und des
Goethe-Instituts teilgenommen, die sich an In- wie Ausländer richtete.
Unter den fast 23.000 Vorschlägen aus über 111 Staaten erkor eine
Expertenrunde ebendie „Habseligkeiten“ zum schönsten deutschen Wort, weil
es materiellen Besitz mit überirdischer Seligkeit verknüpfe und die Liebe
zu den kleinen Dingen zur Bedingung des Glücks mache.

Viel steckt in einem Wort, man muss nur seine sieben Zwetschgen
einschalten. Dann sieht man in der „Schlucht“ das u umragt von hohen
Konsonanten. Die „Lichtung“: ein i für das helle Stückchen Wiese und das u
für den dunklen Wald ringsum. Der „Wirrwarr“ spiegelt anschaulich das
Durcheinander wider, „behutsam“ drückt mit dem langen u, dem langen a und
dem bremsenden h vorsichtiges Herantasten (das weiche m!) sorgsame
Annäherung aus. „Verrückt“ parallelisiert die geistige Unordnung mit der
räumlichen und macht sie, auch so ein Wort: begreiflich; „obschon“ stößt
mit seiner fühlbaren Grenze zwischen den beiden Silben zum Innehalten und
Nachdenken an.

Das Deutsche kann, wie die eben paraphrasierten Kommentare einiger
Beiträger zu der Umfrage deutlich machen, ziemlich bild-, auch hörbildhaft
sein. Aber es entwickelt sich in eine Richtung, auf der solche Zusatzwerte
verloren gehen, Assoziationen vermieden und Wörter auf ihre Zeichenfunktion
reduziert werden: Sie weisen nicht mehr über ihren Gegenstand hinaus; das
Zeichen bezeichnet das Bezeichnete, fertig.

## Leerstellen beim Mitleid

Das „Mitgefühl“ wird durch die blassere „Empathie“ verdrängt, während das
„Mitleid“ sogar ersatzlos verschwindet; aus schlechten Gründen, wie Jürgen
Roth in seinem Essayroman „Vielleicht Hunsrück“ schreibt: „Die zwei
Bestandteile des Wortes,Mitleid' zeigen hinlänglich, warum es niemand mehr
hat.“ Und rechtens die Leerstellen benennt: „Gemeinsamkeit? Gespür für
Unrecht?“

An die Stelle von „Weißrussland“ tritt ein papierenes „Belarus“, zu
schweigen vom geschichtsträchtigen „Holland“, das seit diesem Jahr
bürokratisch die „Niederlande“ sein will, Den Haag hat es verordnet; die
bildkräftige „Zeitlupe“ weicht einer farblosen „slow motion“ und der
umständliche, aber das Wesentliche benennende „Pauschaltarif“ der „Flat“.
Die einen Wörter ruhen wie Nervenzellen in einem dichten
Beziehungsgeflecht; andere stehen herum wie Autisten. Oder stellen
womöglich eine verkehrte Verbindung her: Früher war ein Patient
manisch-depressiv, womit man das Krankheitsbild vor Augen hatte; jetzt
leidet er an einer „bipolaren“ Störung: eine Fügung, die sich nicht mehr
selbst erklärt, sondern eiskalter Aufklärung bedarf.

Wörter haben eine Bedeutung und je nach den Umständen Mitbedeutungen; je
konkreter, desto besser, weshalb „Ehemann“ und „Ehefrau“ mehr sagen als
„Person A“ und „Person B“. So aber wird es laut taz vom 16. April 2020 in
der Steuererklärung heißen, sobald die Finanzverwaltungen die Formulare
umgearbeitet haben.

## Aufladen der Atmosphäre

Wörter haben eine Bedeutung und je nach den Umständen Mitbedeutungen; sie
stiften Konnotationen und laden sich mit Atmosphäre auf. Manche mit einer
unpassenden; andere – mit gar keiner. Das Highlight einer entsinnlichten,
trockengelegten Sprache ist ebendieses, während Höhepunkt, Spitzenleistung,
Meisterstück, Knüller, Knaller, Hammer, Herzstück („das Highlight dieser
Ausgabe ist der Artikel über …“) etwas Besonderes, ja das Beste (das
„schönste Ferienerlebnis“ ist erwachsen geworden und jetzt das „Highlight
des Urlaubs“) viel sinnfälliger ausdrücken.

Die Synonyme erfüllen denselben Zweck wie die Allzweckvokabel. Doch was sie
zugleich leisten, geht über den Mitteilungswert hinaus. Unter einem
„Highlight“ lässt sich nichts Rechtes vorstellen, unter einem „Glanzlicht“
schon. Auch beim „Meilenstein“, mit dem man etwa eine Erfindung bezeichnet,
entsteht etwas vor dem geistigen Auge: Er markiert im buchstäblichen Sinn
eine räumliche Entfernung. Folglich wird auch bei übertragener Verwendung
die Vorstellung einer langen Strecke aufgerufen: Der sprichwörtliche
Meilenstein weist statt in die geografische Ferne in die fernere Zukunft,
er weist den Weg in der Zeit. Das „Highlight“ kann nichts davon.

Dafür lässt sich das „Highlight“, weil es weiter nichts besitzt, ohne
Verlust in den binären Code übersetzen. Arm an Assoziationen, ist es
armselig und passt in eine vom Kapitalismus verwüstete, entleerte Welt, in
der es nichts mehr gibt, was die Sinne anspricht, und aus der eines Tages
das analoge Leben vertrieben worden sein wird.

3 Jun 2020

## AUTOREN
Peter Köhler
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