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Kyjiw taz | Der folgende Text erschien erstmals im September 2019 in der
taz. Wir veröffentlichen ihn hier erneut, um das Leben im Kyjiwer
Kinderkrankenhaus Ochmatdit zu zeigen, das [1][ein russischer
Raketeneinschlag am 8. Juli zerstörte]. Bei den Angriffen auf Kyjiw wurden
nach ukrainischen Angaben mindestens 27 Menschen getötet, darunter vier
Kinder.
Wer zur „Schule der Superhelden“ im Kyjiwer Kinderkrankenhaus Ochmatdit
will, muss ein Tor mit Schlagbaum passieren und ein dreistöckiges grünes
Gebäude betreten. Hier werden nicht nur Kinder auf eine
Nierentransplantation vorbereitet, sondern auch im Rechnen, Lesen und
Schreiben geübt. Eine Schule im Krankenhaus – das ist neu in der Ukraine.
„Schulferien? Nein, da freue ich mich nicht darauf“, erklärt der 15-jährige
Maxim. Er ist mit Feuer und Flamme im Mathematikunterricht dabei. Und er
löst Aufgaben, bei denen sich auch Erwachsene schwertun würden. Maxim ist
krank, so krank, dass er schon seit einem halben Jahr im Kinderkrankenhaus
Ochmatdit lebt. Und wenn er etwas an der Tafel erklären will, dann geht die
Lehrerin zu seinem Tisch und schiebt ihn liebevoll mit seinem Rollstuhl zur
Tafel.
Hier in der Schule des Nationalen Kinderkrankenhauses Ochmatdit in Kyjiw
sind Kinder aus vier verschiedenen Abteilungen. Manche von ihnen leben
schon sieben Jahre im Krankenhaus. Vieles ist hier anders als an den
Schulen, in denen Maxim früher war, irgendwo nicht weit weg von Odessa am
Schwarzen Meer. Und hier macht Schule Spaß, ist eine erfreuliche
Abwechslung. Hier gibt es keine Hausaufgaben, keine Prüfungen, und wer
erschöpft ist, kann sich, ohne fragen zu müssen, einfach auf ein Sofa im
Klassenzimmer legen.
„Im Krankenzimmer sehe ich immer wieder nur die weiße Decke, die weißen
Wände, habe nur einen Nachbarn, mit dem ich mich unterhalten kann. Und das
ist auf Dauer langweilig. Da passiert nichts. Aber hier in der Schule höre
ich jeden Tag etwas Neues“, berichtet Maxim. Neben dem
Mathematik-Unterricht freut er sich auch über Chemie. Es sei einfach eine
Freude, zu sehen, wie sich eine grüne Flüssigkeit auf einmal gelb färbe.
Wie alle Kinder in der Klasse hat auch Maxim eine kleine Pyramide auf
seiner Schulbank stehen. Die hat eine gelbe, eine grüne und eine rote
Seite. Wer nichts verstanden hat, zeigt den Lehrern die rote Seite der
Pyramide. Wer etwas verstanden hat, die gelbe Seite. Maxim hingegen hat
meistens die grüne Fläche vor sich.
## Weicher Fußboden
Auch das Klassenzimmer ist ungewöhnlich. Der Boden ist weich. Wenn man
fällt, kann man sich nicht wehtun. Trotz allem ist die Schule wie eine
richtige Schule. Hier gibt es alle Fächer, die es auch an jeder anderen
Kyjiwer Schule geben würde: Mathematik, Biologie, Physik, Ukrainisch für
alle Jahrgangsstufen.
„Ich bin gerne Lehrerin an der Schule hier am Krankenhaus“, berichtet die
Biologielehrerin Natalya Danilenko. Sie gibt zweimal in der Woche
Unterricht. „Mit Kindern zu arbeiten, die sich über den Unterricht freuen,
ist doch etwas sehr Schönes für einen Lehrer. In keiner anderen Schule sehe
ich so viele strahlende Kinderaugen wie hier“, sagt die Lehrerin.
„Kinder, die eine schreckliche Diagnose erhalten haben, kommunizieren
weniger. Und bei uns in der Schule haben sie auch Kontakt mit Kindern, die
ein ähnliches Schicksal haben. Gleichzeitig tun wir alles, dass die Kinder
sich gebraucht fühlen.“
Die Schule der Superhelden wächst. Demnächst wird in Kyjiw bereits eine
vierte derartige Schule eröffnet. Neben der Schule im Krankenhaus Ochmatdit
gibt es eine Schule der Superhelden in der Kinderonkologie am
Krebsinstitut, eine dritte im städtischen Kinderkrankenhaus Nr. 7 und
demnächst eine vierte Schule in der Klinik für Verbrennungsopfer. Der
Unterricht findet individuell oder in Klassen oder auch als Fernunterricht
statt.
Vier Jahre lang habe sie auf die Eröffnung dieser Pilotschule
hingearbeitet, berichtet Jewgenija Smirnowa, die Initiatorin der im Oktober
2018 eröffneten Pilotschule am Ochmatdit der taz. Dass die Schule
schließlich aufgebaut worden ist, hat man auch der starken medialen
Unterstützung des Senders 1+1 und der Fernsehjournalistin Natalia
Mosejtschuk von der Initiative „Recht auf Bildung“ zu verdanken.
Mosejtschuk hatte bei der Übertragung der Eröffnung eines Klassenzimmers
für HIV/Aids-infizierte Kinder mit einem Spendenaufruf für eine Schule an
der Klinik Ochmatdit 20.000 Euro an Spenden gesammelt und damit den
Startschuss für die Schule der Superhelden an der Klinik Ochmatdit gegeben.
„Wie oft fahren wir an Krankenhäusern vorbei und sind uns sicher, dass dort
den Patienten schon geholfen wird. Aber die Patienten brauchen mehr als nur
medizinische Betreuung. Sie brauchen auch das Wort, den Zuspruch, das
Gespräch. Vor allem die ganz jungen Patienten“, begründet Natalia
Mosejtschuk ihr Engagement. Und am 19. Dezember 2018, in der Ukraine der
Tag des Heiligen Nikolaus, hat das Bildungsministerium noch einmal fast
eine halbe Million Euro für die Schule der Superhelden gegeben.
## Eigentlich Aufgabe des Staats
Zwar sind die am Aufbau der Schule beteiligten Initiativen „Recht auf
Bildung“ und „Small heart with Art“ gerne bereit, auch andere Initiativen
im Land beim Aufbau derartiger Schulen für kranke Kinder zu unterstützen,
so Jewgenija Smirnowa, die Initiatorin der Superheldenschule. Doch
eigentlich seien derartige Schulen Aufgabe des Staats. Und deswegen, so
Smirnowa, sehen sie und ihre Kollegen im Projekt der Schule der Superhelden
eine Pionierleistung, die irgendwann vom Staat in die Hand genommen werden
soll.
„Ich war als Kind sehr häufig krank, war immer wieder oft für ein halbes
Jahr im Krankenhaus“, erzählt Smirnova. „Und deswegen weiß ich, wie man
sich als Kind im Krankenhaus fühlt. Weiß, wie wichtig es für Kinder im
Krankenhaus ist, zu sehen, [2][dass man Teil der Gesellschaft ist].“
Smirnova berichtet weiter, dass sie nicht nur unangenehme Erinnerungen an
die Krankenhäuser habe. Schließlich habe sie sich im Krankenhaus das erste
Mal so richtig verliebt. Evgenia Smirnova arbeitet ehrenamtlich. Viele
Lehrer werden aber auch bezahlt. Und die Schule erhält Geld und
Unterstützung von Stiftungen, Organisationen, Künstlern.
Um internationalen Standards zu genügen, pflegen die Initiatoren auch einen
regen Austausch mit ähnlichen Schulen in anderen Ländern. Insbesondere zu
Finnland und Neuseeland habe man guten Kontakt.
In der Ukraine gibt es zwar die allgemeine Schulpflicht. Eltern sind jedoch
berechtigt, ihre Kinder selbst zu Hause zu unterrichten. Seit der
Bildungsreform vom September 2017 muss man zum Erwerb der Hochschulreife
nicht mehr 11, sondern 12 Klassen durchlaufen. Seit der Bildungsreform
müssen Schüler in der Regel die Schule ihres Wohngebietes besuchen, haben
somit keine freie Schulwahl mehr.
## Gewisse „Dankbarkeit“
Dass die Wahl für die Superheldenschule auf die Kinderklinik Ochmatdit
gefallen ist, ist kein Zufall. Denn sie selbst ist ein Pilot- und
Vorzeigeprojekt. Nicht überall in ukrainischen Krankenhäusern lässt man
kranken Patienten so viel Zeit, Geduld und Geld angedeihen, wie hier.
Rein formal ist die [3][medizinische Versorgung in der Ukraine zwar für die
gesamte Bevölkerung kostenlos]. In der Praxis jedoch kann niemand eine
korrekte Behandlung erwarten, wenn er sich nicht Ärzten und
Krankenschwestern gegenüber finanziell erkenntlich zeigt. Immer wieder
werden auch schwer Krebskranke von einer Klinik nicht aufgenommen, wenn
erkennbar ist, dass sie nicht in der Lage sind, eine gewisse „Dankbarkeit“
zu zeigen.
Und so wird nur behandelt, wer auch das nötige Kleingeld hat – oder wer es
geschafft hat, in ein Projekt zu kommen, das eine große mediale
Aufmerksamkeit genießt – wie die Schule der Superhelden.
9 Jul 2024
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