Das Verschwinden der Vernunft
(Zeitfragen, May, 1995)
Zeitfragen: Herr Professor Rao, Sie unterrichten europäische Geschichte an einer New Yorker Privatuniversität. Manchmal hat man den Eindruck, dass in Amerika nicht viel europäische Geschichte gelehrt wird.
John Rao: In der Tat, das Fach Geschichte ist von der Primarschulstufe an zerstört worden. Als ich in den 50er Jahren in den Kindergarten ging, pflegten wir in unserer Ruhezeit auf einer Decke auf dem Boden zu liegen, und unsere Lehrer lasen uns aus der griechischen und römischen Geschichte vor; dadurch wussten wir dann einiges. In unseren Kinderspielen griffen wir das auf, was wir gerade lernten: Wir spielten, z.B., Turnierkämpfe, als ob wir Ritter wären, die um ihre Damen kämpften. Aber dies wurde, wie gesagt, von der Primarschulstufe an zerstört. Zuerst machte man einfach aus dem Fach Geschichte das Fach Sozialwissenschaften; danach konnte man unter diesem Titel machen, was man wollte. Diese Entwicklung drang dann in die Sekundarschule vor und hat heute ein derartiges Ausmass erreicht, dass die neu an die Universitäten kommenden Studenten im Fach Geschichte überhaupt nicht mehr ausgebildet sind.
Zeitfragen: Spiegelt dies den Zusstand des amerikanischen Schulsystems wider?
John Rao: Ich denke schon; und ich möchte behaupten, dass zuerst die Sprache zerstört wurde, dann die Geschichte und dann alle anderen geisteswissenschaftlichen Fächer mit Ausnahme der Mathematik. Mathematik wurde nicht angetastet, da Mathematik benötigt wird, um die Jugendlichen mmit gewissen Grundfertigkeiten auszustatten, die für die Grundlagen des modernen Berufslebens, speziell im Zusammenhang mit Computern, benötigt werden. Theoretische Mathematik ist allerdings ebenfalls schon schwer betroffen. Wir haben heute zwei Arten von Problemen: Einerseits gibt es Universitäten, die eine grosse Anzahl von Leuten ausbilden, die entweder nicht an die Uni gehören oder die zwar durchaus an die Uni gehörten, aber keine vernünftige Vorbildung haben. Gerade an meiner Uni ist dies so. Andererseits gibt es in den USA auf höherem Niveau noch die sogenannten Ivy League Universitäten. Dort sind die durch linksorientierte Ideologien geschaffenen Probleme grösser. Meine Frau z.B. hatte eine Menge Probleme an ihrer Uni, als sie über Fragen des menschlichen Lebens sprach und es mit tierischem Leben verglich. Sie musste dann unendlich viel Zeit darauf verwenden, den Studenten zu beweisen, dass Menschen nun wirklich Lebewesen sind, die andere und ausgeprägtere intellektuelle Bedürfnisse haben als Hunde und Katzen. Nach heutigem Zeitgeist erscheint es vielen Studenten als arrogant, wenn man den Menschen einen höheren Intellekt zubilligt als den Tieren. So etwas würde an meiner Uni nicht passieren; ich habe mit anderen Problemen zu kämpfen.
Zeitfrage: Gibt es Ansätze, diesen niedrigen Bildungsstand zu korrigieren? Versuchen Wirtschaft und Industrie etwas zu ändern?
John Rao: Es gibt viele Bemühungen, das zu ändern, so z.B. von konservativen Organisationen, die zum Teil durch die Wirtschaft beeinflusst sind. Soweit ich das sehe, kranken jedoch viele der Argumente, die von konservativen und von der Wirtschaft unterstützten Kreisen zur Verbesserung des Bildungssystems vorgebracht werden, an ihrer utilitaristischen Logik. Die Wirtschaft sagt oft, dass sie Arbeitskräfte will, die gut lesen und schreiben können, dammit sie in der Geschäftswelt ihre Leistung erbringen können. Leider scheinen diese Leute nur selten zu verstehen, dass man lesen und schreiben nicht einfach nur deshalb lernt, weil es gut für die Wirtschaft ist. Sie können oft nicht nachvollziehen, warum man soviel Zeit mit Literatur und Geschichte verbringen muss, um richtig lesen und schreiben zu lernen. Daher werden sich einige der auch von der Wirtschaft getragenen Anstrengungen, das Bildungswesen zu verbessern, als Fehlschlag entpuppen. Gut gemeinte private und regierungsamtliche Anstrengungen sind oft nur oberflächlich. Man gibt eine Menge Geld aus, man ist sich über die Probleme einig, es gibt eine Menge Konferenzen über das Thema, die wiederum eine Menge Geld kosten, und am Ende heisst es dann, dass man viel zu Verbesserung der Bildung getan hat; man hat aber nur geredet und Geld ausgegeben, ohne das Problem wirklich anzugehen.
Zeitfragen: Wird auch versucht, Probleme konkret anzupacken? Zumindest viele Eltern und Lehrer müssten ein Interesse und die Gelegenheit haben, die Bildungsmöglichkeiten ihres Kindes konkret zu verbessern.
John Rao: Dafür gibt es durchaus Beispiele: Die Kinder eines Freundes von mir wurden in einer Privatschule erzogen, die einige Familien organisiert hatten. Ihre Kinder erhielten eine so gute intellektuelle Ausbildung, dass sie empfehlen, von denen bekannt is, dass sie Substanz haben. Es handelt sich also um eine Art informelles Netzwerk innerhalb der Universitätsstruktur.
Zeitfragen: Nehmen Ihrer Meinun nach die Eltern ihre Verantwortung gegenüber den Erziehungsinstitutionen nicht wahr, oder gibt es Ansätze in Richtung einer Gegenoffensive?
John Rao: Nun, das ist kompliziert. Nehmen wir, z.B., die Minderheiten in den Städten: In den Schulen, in denen meine Frau gearbeitet hat, gibt es z.B. kaum ein Kind, das den Namen seines Vaters trägt. Manchmal leben die Kinder mit irgendeiner Mutter und irgendeiner Vater, obwohl die leiblichen Eltern noch leben. Es gibt oft schlicht keine Familien. Obwohl ich keine Zahlen angeben kann, würde ich doch sagen, dass in gewissen Gebieten die Mehrheit der Schüler keine Eltern hat, die such um ihre Bildung kümmern könnten. Ein noch weiter verbreitetes Problem ist, dass in vielen Familien Vater und Mutter arbeiten. Viele müssen das, um zu überleben. Es gibt aber viele, auch reichere Mittelklassefamilien, in denen Vater und Mutter nicht aus Not, sondern aus Karrierggründen arbeiten. Sie können dies meist nur, weil sie Immigranten als billige Arbeitskräfte haben, die also Kindermädchen und Haushaltshilfen in den Familien arbeiten. Veränderungen im Bildungsbereich konfrontierten Eltern in einer Bevölkerung mmit grossem Einwanderungsanteil mit weiteren Problemen. Die USA waren in der Vergangenheit ein Einwanderungsland und sind es heute wieder. Viele Eltern ohne grosse Schulbildung wissen nicht, wie sie mit den Lehrern reden und sich ihnen gegenüber verhalten sollen. Sie fühlen sich unterlegen undhaben keine Übung im Umgang mit der Bürokratie: Wenn sie sich über etwas beschweren wollen, verstehen sie schon die Sprache nicht, mmit all den soziologischen und sonstigen Ausdrücken. Da ist dann schon sehr viel Mut und Hartnäckigkeit nötig, um aufzustehen und gegen eine bestimmte Politik in der Schule Stellung zu nehmen, die man für schlecht oder gefaährlich für sein Kind hält. Ein weiteres Problem ist natürlich, dass viele der heutigen Eltern schon aus geschiedenen Familien stammen bzw. Bereits in diesem Erziehungssystem aufgewachsen sind und nun nicht wissen, wie sie ihre Kinder erziehen sollen.
Zeitfragen: Sie teilen die Auffassung, dass Europa in vielen Beriechen—speziell in soziologischer und ideologischer Hinsicht—hinter der Entwicklung in den USA herhinkt. Kennen Sie Beispiele solcher Entwicklungen, die in Amerika vorweggenommen wurden und erst später in Europa auftraten?
John Rao: Ja, vor allem in Schulbereich. Ich habe Cousins, die in Neapel Lehrer sind, und einen engen Freund, der in Berlin unterrichten; ausserdem, habe ich, da ich meine Ausbildung in England gemacht habe, viele Freunde, die dort seit den 70er Jahren unterrichten. Einen anderen Freund habe ich in Paris. Ich erhalte also Informationen aus den unterschiedlichsten Ländern. Meinem Freund in Berlin z.B. erzählte ich von den Problemen, die ich 1980 in der Schule hatte; er selbst begann 1981 an einer sehr guten Schule zu unterrichten. 1985 oder 1986 begann er mir von den Dingen zu erzählen, die an seiner Schule eingeführt wurden und die ich alle schon erlebt hatte. Er war darauf vorbereitet, da sie genau dem Muster folgten, das ich erlebt hatte. Auch meine Cousins in Neapel berichten mir, dass die Prüfungen immer weniger Substanz haben und es unter Berufung auf Amerika Schritt für Schritt schlechter werde. Andere Lehrer in Italien beklagen sich über das gleiche. Am auffallendsten ist aber, dass bei allen Schilderungen immer die gleichen Phrasen auftauchen. Überall hört man, dass man offen sein solle, dass man nicht behaupten könne, das eine sei besser als das andere, dass wir in einer Gesellschaft leben, die gerade Strukturlosigkeit verlange, und dass wir halt eine multikulturelle pluralistische Umwelt haben. Und immer wird dies von der Behauptung begleitet, dass das alte Bildungssystem nichts über die Welt, wie sie wirklich ist, vermittle. Die Welt sei in Wirklichkeit negativ und widerwärtig. Da die Schule keine unrealistische “heile Welt” vermitteln dürfe, müsse man die Realität in all ihrer Scheusslichkeit in die Schule holen. Man führt Programme in den Schulen ein, die negative Verhaltensweisen hervorrufen. Und zum Schluss, wenn all diese negativen Auswirkungen in der Schule Fuss gefasst haben, wird behauptet, man habe nur die Realität offengelegt. Diese Problem seien schon vorher vorhanded gewesen, bloss im Verborgenen, man habe nicht darüber gesprochen.
Zeitfragen: Sie kennen aus eigener Erfrahrung schon viele Veränderungen, die in den deutschsprachigen Ländern und speziell in der Schweiz an den Schulen vorangetrieben werden. Können Sie Beispiele geben, wohin der Mangel an Bildung führt, wie sich dieser bei den Schülern konkret auswirkt?
John Rao: Es gibt mehr und mehr echte Problemfelder: einmal den Abbau der Moral, zum anderen die Komplexität einer Gesellschaft, in der immer mehr zerbrochene Familien und all die verschiedenen ethnischen Gruppen versuchen zusammenzuleben. Es gibt Schulen, die derart mit Kriminalität konfrontiert sind, dass sie aufhören, Schulen zu sein und im Grunde zu Tagesgefängnissen verkommen: Sie existieren als Institution nur noch, weil die Polizei nicht so viele potentiell gewalttätige Leute auf der Strasse haben will. Keiner der Schüler hat irgenein Interesse an der Schule; auf Grund der Gewalttätigkeit in den Schulen können die Schüler auch nichts lernen. Zu Unterrichtsbeginn müssen in New York und vielen anderen Städten die Schüler aus Sicherheitsgründen einen Metalldetektor passieren. Die Lehrer sind fast ausschliesslich damit beschäftigt, ihre Klassen in Schach zu halten. Ein Freund von mir unterrichtet an einer High School im Staat New York. Er hat Schüler , die im Gefängnis waren und auf Bewährung entlassen worden sind. Er kann nicht unterrichten. Wenn er beginnt zu unterrichten, schreien die Schüler und sagen ihm, dass er den Mund halten solle, er habe nichts zu sagen. Er hat Drogenhändler in seiner Klasse, die ihm schon gedroht haben, ihn umzubringen. Vor einer Schule in Manhattan, die ich gut kenne, ist zum Unterrichtsende die Polizei immer präsent. Wenn die Jugendlichen “Dampf ablassen” und zu 30, 40, 50 oder 60 in einen Bus oder die U-Bahn drängen, werden sie oft gewalttätig. Das sind natürlich Problemschulen, aber solche Dinge passieren vor unserer Haustür. Und niemand hätte vor 50 Jahren gedacht, dass dies einmal geschehen würde.
Zeitfragen: Man könnte veilleicht meinen, dass dies in kleineren deutschen oder Schweizer Städten nie passieren wird. Denken Sie, dass solche Entwicklungen nur in Grossstädten möglich sind?
John Rao: Die High School, von der ich eben erzählt habe, liegt in einer Stadt mit 50 000 Einwohnern. Dies kann sich so oder ähnlich überall ereignen. Vielleicht leben Sie in einer Gegend, wo alle den gleichen sozialen Hintergrund haben, wo es an der Schule lange keine neuen Lehrer gegeben hat und das Bildungsniveau ziemlich gut ist. Das kann sich aber sehr schnell ändern. So sind die Kinder bei Eintritt in die Schule schon durch das Fernsehen geprägt, wie sie lernen, was sie interessiert und was nicht. Ich glaube, was auf uns alle zukommot, ist die totale Unwissenheit. Ich habe 18jährige Studenten, die funktionale Analphabeten sind: sie können die Woorte und Sätze entziffern, aber sie verstehen sie nicht, erkennen keine Zusammenhänge. Oft haben sie nie ein Buch gelesen. Sie können nicht wirklich lesen. Sie wollen auch nicht lesen, da sie das meiste, was sie gelernt haben, durch Diskussionen—und oft nur dadurch—gelernt haben. Oder sie haben es aus dem Fernsehen, von Videos. Da sie nicht lesen, schreiben sie auch sehr schlecht. Einige können keinen vollständigen Satzbilden. Sie wissen buschstäblich nicht, wie sie ein paar Wörter von links nach rechts auf eiine Zeile schreiben sollen. Andere—und das ist der Normalfall—können Wörter nicht in Schrift umsetzen. Sie schreiben statt des genannten Begriffs irgendein Wort, das ähnlich klingt. Statt “French” schreiben sie z.B. “trench” (Graben). Ein solchermassen ungebildeter Mensch wird unfähig, zwei Gedanken miteinander zu verbinden. Selbst wenn er das noch kann, ist ihm nicht bewusst, dass das, was am Freitag war, auch am Montag nicht gilt, da für ihn Freitag schliesslich nicht Montag ist. Er kann aus zwei Tatsachen keine allgemeingültigen Schlüsse mehr ziehen. Ein Student kam zum Beispiel zu mir und fragte: “Ist dies das Buch für Ihren Kurs?” Dabei zeigte er mir ein Biologiebuch statt des Geschichtsbuchs und meinte: “Mir wurde gesagt, dass Sie ein grünes Buch in Ihrer Klasse benutzen.” Ich antwortete: “Ja, aber das ist ein Biologiebuch.” Worauf er erwiderte: “Ja, aber es ist ein grünes Buch.” Er war völlig überrascht, dass es ein Biologiebuch war. Wir müssen also mindestens mit funktionalem Analphabetismus rechnen. Man kann sich den Schaden kaum vorstellen, der durch eine solche Entwicklung angerichtet wird.
Zeitfragen: Was ist Ihre grösste Sorge in diesem Zusammenhang?
John Rao: Was mich am meisten beschäftigt und worauf Sie vorbereitet sein sollten, ist die Tatsachr, dass—zumindestens soziologisch gesehen—alle Rationalität, alle Vernunft verschwunden sein wird, sobald man eine Bevölkerung aus funktionalen oder völligen Analphabeten geschaffen hat. Es gibt dann nur noch eine Handvoll Menschen, die sich durch Vernunft ansprechen lassen. Was bleibt, sind Menschen, die sozusgen “naturgegeben” agieren und durch innere Begierden und ihre momentanen Wünsche angetriben werden. Es wird sich nicht mehr das bessere Argument durchsetzen, sonder der am besten in Szene gesetzte Reiz, der stärkste Wille. Längerfristig gesehen kann das bedeuten, dass Menschen aus einer nichtwestlichen Kultur einwandern, die sich ihrer Kultur oder Religion gegenüber stark verpflichtet fühlen und denen die Zerstörung des Westens nichts bedeutet. Es könnte dann passieren, dass, sagen wir, eine moslemische Bevölkerungsgruppe in dem besagten Land einfach durch Versäumnis der anderen die Macht und die Regierung übernimmt. Diese Gruppe würde sich natürlich überhaupt nicht um den Selbstmord der westlichen Kultur kümmern, da er sie gar nicht betrifft. In anderen Fällen würden einfach die stärksten Kräfte, die mit dem stärksten Willen, die Macht übernehmen.
Return to main page.