1:1    Die Schriften des Alten Testaments

Die Bibel [griechisch biblos = Buch] oder die Heilige Schrift ist
eine Sammlung von Buechern, die das Alte und Neue Testament umfasst.
Das Alte Testament wird von Juden und Christen als
Offenbarungsurkunde betrachtet. Die Buecher des Alten Testaments
stammen von Verfassern, durch die Gott zu den Menschen spricht und
durch die das Volk Israel seinen Glauben an die Heilstaten und
Verheissungen Gottes bekennt. Juden und Christen glauben an die
Inspiration (Eingebung) dieser Buecher durch den Geist Gottes. Das
Verzeichnis der Buecher, die zur Heiligen Schrift gehoeren, nennt man
Kanon [griechisch kanon = Massstab], weil sie den Massstab fuer den
Glauben darstellen. Jesus und seine Juenger uebernahmen die Buecher der
Heiligen Schrift, wie sie ihr Volk kannte, und beriefen sich in ihrer
Botschaft auf sie als auf das Wort Gottes.

1:2    Die Juden Palaestinas unterschieden drei Teile der Bibel: die fuenf
Buecher der Tora oder des Gesetzes (Genesis, Exodus, Levitikus,
Numeri, Deuteronomium), die sie Mose zuschrieben; die Buecher der
Propheten, die sie in die frueheren (Josua, Richter, Samuel, Koenige)
und die spaeteren Propheten (Jesaja, Jeremia, Ezechiel und das Buch
der zwoelf Kleinen Propheten) unterteilten; die (uebrigen) Schriften
(Psalmen, Ijob, Sprichwoerter, Rut, Klagelieder, Hoheslied, Kohelet,
Ester, Daniel, Esra-Nehemia und Chronik). Weil sie noch nicht die
Zweiteilung der Buecher Samuel, Koenige, Esra-Nehemia und Chronik
kannten und die zwoelf Kleinen Propheten noch in einem einzigen Buch
zusammenfassten, zaehlten sie insgesamt 24 Buecher der Heiligen Schrift;
erst in den christlichen Bibelausgaben teilte man die genannten
Buecher auf, so dass dieser Kanon 39 Buecher umfasst, die sogenannten
protokanonischen Buecher [griechisch protos kanon = erster Kanon].
Dieser Kanon ist im Vorwort zur griechischen Sirach-Uebersetzung
vorausgesetzt und wurde um 100 n. Chr. vom Judentum allgemein
anerkannt.

1:3    Die griechisch sprechenden Juden der Diaspora in Aegypten lasen im
Gottesdienst der Synagoge die Bibel in einer griechischen
Uebersetzung, der sogenannten Septuaginta("Siebzig", weil angeblich
von siebzig Uebersetzern stammend). Diese griechische Uebersetzung
enthielt noch andere Buecher, die bei den Diasporajuden ebenfalls als
heilige Schriften galten. Von ihnen uebernahm die christliche Kirche die
sieben sogenannten deuterokanonischen Buecher [griechisch deuteros
kanon = zweiter Kanon] in ihre Bibel: Tobit, Judit, 1 und 2
Makkabaeer, Baruch, Weisheit und Sirach, ferner zusaetzliche Abschnitte
in den Buechern Daniel und Ester.

1:4    Demgegenueber legten die Fuehrer der aramaeisch sprechenden Juden
Palaestinas auf der sog. "Synode" von Jamnia [Jabne, um 100 n. Chr.]
offiziell fest, welche Schriften kanonisch sind. Alle in griechischer
Sprache geschriebenen Buecher wurden grundsaetzlich fuer nicht-kanonisch
erklaert. In der hebraeischen Bibel fehlen daher die sog.
deuterokanonischen Buecher.

1:5    In den christlichen Bibelausgaben wurden die Buecher neu geordnet
und eingeteilt, und zwar in Geschichtsbuecher, Lehrbuecher und
Prophetenbuecher. Erst als die Schriften der Apostel und
Apostelschueler ebenfalls kanonisches Ansehen gewonnen hatten und zur
Heiligen Schrift gerechnet wurden (vgl. die Einleitung zum Neuen
Testament), unterschieden die christlichen Theologen zwischen dem
Alten Testament und dem Neuen Testament, wobei "Testament"
[lateinisch testamentum] die Bedeutung "Bund" [griechisch: diatheke;
hebraeisch: berit] bekam.

1:6    Das erste Kanonverzeichnis der Kirche, das alle Buecher der
christlichen Bibel enthaelt, geht auf die Provinzialsynode von Hippo
(393 n. Chr.) zurueck. Es wurde von der lateinischen Kirche und von
der Ostkirche uebernommen und auf dem Konzil von Trient 1546
bestaetigt. Diesen Kanon setzt die lateinische Bibeluebersetzung, die
sogenannte Vulgata (= die allgemein Verbreitete) voraus. Martin Luther
griff fuer seine Uebersetzung bewusst auf den hebraeischen Text zurueck
und schied daher die deuterokanonischen Buecher wieder aus dem Kanon
aus. Er uebersetzte sie zwar und empfahl ihre Lektuere, rechnete sie
aber nicht zur Heiligen Schrift. Seither bezeichnen die Kirchen der
Reformation diese Buecher als Apokryphen, das heisst als der Bibel
spaeter zugefuegte Schriften. Im Sprachgebrauch der katholischen
Theologen dagegen sind Apokryphen andere Buecher, die zwar zeitweise
in manchen juedischen und christlichen Gemeinschaften zur Heiligen
Schrift gerechnet und im Gottesdienst vorgelesen wurden, die aber
weder die lateinische Kirche noch die Ostkirche in die Bibel aufnahm.
Diese Buecher nennen die Theologen der reformatorischen Kirchen
Pseudepigraphen, das heisst faelschlich biblischen Personen
zugeschriebene Buecher.

1:7    Die protokanonischen Buecher sind in Hebraeisch ueberliefert; nur
einige Abschnitte haben einen aramaeischen Urtext (vgl. die Einleitungen
zu Esra und Daniel). Die deuterokanonischen Buecher sind nur in
Griechisch erhalten geblieben (vgl. aber die Einleitung zu Sirach).

1:8    Die Leitsaetze fuer die interkonfessionelle Zusammenarbeit bei der
Bibeluebersetzung, die 1968 vom Weltbund der Bibelgesellschaften und
dem Sekretariat fuer die Einheit der Christen beschlossen wurden,
sehen vor, dass in oekumenischen Ausgaben die deuterokanonischen Buecher
enthalten sind. Fuer die Bibelausgaben der Bibelgesellschaften wird
dabei auf die Moeglichkeit verwiesen, die deuterokanonischen Teile vor
dem Neuen Testament abzudrucken.

1:9    Die meisten Buecher des Alten Testaments sind in einem langen
Ueberlieferungsprozess entstanden. Gott hat zunaechst zu den
Patriarchen, zu Mose, zu den Propheten und anderen Gottesmaennern
gesprochen. Diese haben die Offenbarung teils muendlich, teils
schriftlich weitergegeben. Die Lehrer Israels haben das so empfangene
Wort Gottes betend durchdacht, erlaeutert und erweitert. Schliesslich
fanden sich Maenner, die der so weitergegebenen Ueberlieferung jene
endgueltige schriftliche Form gaben, die Jesus und die Urkirche als
Heilige Schrift anerkannten und der Kirche anvertrauten.

2:1    Die fuenf Buecher des Mose

Die Buecher Genesis, Exodus, Levitikus, Numeri und Deuteronomium
bilden bei den Juden eine Einheit, die sie Tora (Gesetz) nennen, weil
sie das Gesetz enthalten, das Mose auf dem Sinai von Gott fuer Israel
empfangen hat und das die Grundlage fuer den Bund zwischen Gott und
Israel bildet. Wegen des grossen Umfangs teilten schon die Juden die
Tora in fuenf Buecher ein. Die fuenf Buchrollen verwahrte man in den
Synagogen in einem Behaelter. Darum nannten bereits die Kirchenvaeter
die Sammlung dieser fuenf Buchrollen Pentateuch (Fuenfrollen-Behaelter).
Diese fuenf Buecher wurden an den Sabbaten und Hochfesten in der
Synagoge gelesen, und zwar fortlaufend in einer einjaehrigen oder
dreijaehrigen Leseordnung. Die Lesung der Tora ist bis heute
wesentlicher Bestandteil des juedischen Gottesdienstes.

2:2    Nach juedischer und christlicher Tradition hat Mose die Tora
geschrieben, um sein Volk die Heilsgeschichte von der Erschaffung der
Welt bis zum Einzug Israels in das den Erzvaetern verheissene Land zu
lehren. In die Geschichtsdarstellung sind die Gesetzestexte
aufgenommen, die die Juden als das Bundesgesetz vom Sinai verstehen.
Die moderne Bibelwissenschaft hat an zeitgeschichtlichen und
literarischen Unstimmigkeiten, an Unterschieden in den Gottesnamen,
im Wortschatz, im Stil, an den verschiedenen "Theologien" und an
anderen Merkmalen festgestellt, dass der Pentateuch eine grosse, aus
mehreren literarischen Schichten bestehende Sammlung von
Ueberlieferungen ist, die in ihrem Kern bis auf die Zeit des Mose (13.
Jahrhundert v. Chr.) zurueckgehen koennen.

2:3    Man pflegt heute drei Hauptschichten zu unterscheiden, die sich
ueber die vier ersten Buecher erstrecken: 1. Die jahwistische (J), erkennbar
an der Vorliebe fuer den Gottesnamen Jahwe; sie wurde um 900 v. Chr.
als Werk eines grossen Geschichtsschreibers und Theologen
niedergeschrieben. 2. Die elohistische Schicht (E), so genannt wegen
der Vorliebe fuer den Gottesnamen Elohim (= Gott); sie wurde um 720 v.
Chr. niedergeschrieben. 3. Die Priesterschrift (P); sie wurde im
Babylonischen Exil um 550 v. Chr. von Priestern niedergeschrieben, die
besonders an gottesdienstlichen Ordnungen interessiert waren. Die
Zuweisung der einzelnen Texte an die drei Schichten ist aber nicht
unumstritten. Dazu kommt als ein eigener Ueberlieferungskomplex das
Deuteronomium. In diese drei bzw. vier Schichten haben die Verfasser
Ueberlieferungen eingearbeitet, die ihrerseits auf muendlich umlaufende
oder schriftlich vorliegende Traditionen verschiedenen Alters
zurueckgingen: Erzaehlungen ueber Personen und Ereignisse, die fuer das
Werden und die Geschichte Israels wichtig waren; Lieder; Stammbaeume;
Listen von Orten; Sammlungen von Gesetzen verschiedenen Inhalts.

2:4    Die spaetere Tradition hat die frueheren Ueberlieferungen bearbeitet,
vor allem spaeter notwendige gesetzliche Regelungen in das ueberkommene
Bundesgesetz eingearbeitet. Schliesslich hat ein letzter Bearbeiter
(Redaktor, abgekuerzt R) die ganze ihm vorliegende muendliche und
schriftliche Tradition zusammengefasst und unserem Pentateuch die
heutige Gestalt verliehen. Damit wollte er seinem Volk nach der
Katastrophe des Babylonischen Exils (586-538 v. Chr.) zeigen, wie Gott
im Lauf der Geschichte an der Menschheit und besonders an seinem
Volk Israel gehandelt hat, und diesem Volk eine feste Lebensordnung
geben.