Die drei Vögel und die Plattform Die drei Vögel kamen vormittags um elf. Sie waren fremd. Sie waren nicht schwarz, aber riesig. Sie griffen sich Tischler, Händler, Maurer, Lehrer, und mich. Sie brachten uns hoch über die Stadt, bis unter uns nur Wolken waren. Die Leute sagten nichts. Es war nicht kalt. Es war nicht mehr unser Jahrhundert, es war das Jahr 1609. Unter uns waren alte Häuser, oder das Meer. Die Vögel brachten uns auf eine Plattform, die in den Wolken hing. Sie setzten uns ab uns ließen uns allein. Die Luft war grau-blau und schwül. Die Plattform war aus dunklem Stein. Es standen ein paar Palmen herum, und auf dem Boden wuchsen Flechten. Die Flechten waren grün, die Palmenblätter waren auch grün, die Stämme seltsam orange. Die Tischler, Maurer und Händler fingen an, hin- und herzulaufen; bis zum Rand der Plattform, wieder zurück. Wir sprachen kaum miteinander, nur das nötigste, dann gar nicht mehr. Wir ernährten uns von den Früchten der Palmen. Sie schmeckten irgendwie mehlig. Es dauerte sehr lange, bis wir nichts mehr davon hatten. Ich war ständig müde. Dann irgendwann fiel jemand hinunter. Er hatte am Rand der Plattform gestanden und hinabgesehen. Irgendwann verlor er dann das Gleichgewicht. Ein Schrei war zu hören, der schnell verklang. Es ging ein Aufraunen durch die Menge (wir waren etwa zwanzig), als sie bgriffen, was passiert war; verängstigte Blicke hier und da und in die Richtung, aus der der Schrei gekommen war. Keiner hatte es gesehen, außer mir. Für eine Weile mieden sie den Rand der Plattform und ihre Stimmen waren gedämpft. Die Vögel kamen und brachten uns Essen, wann, weiß ich nicht mehr. Ich schlief ein. Als ich erwachte, sah man mich an. Es sei wieder jemand hinuntergefallen, eine Frau diesmal. Wie das passiert sei, hörte ich mich fragen. Man habe wieder nur den Schrei gehört, es habe niemand beobachtet. Ich wußte, worauf das hinauslaufen würde: wir würden alle sterben. Sie sahen meinen Blick und sie wußten, was ich dachte; und ich sah ihre Blicke und ich wußte, daß sie dasselbe dachten. Die Zeit blieb ereignislos, abgesehen von den Stürzen der Personen 3 bis 9. Inzwischen hatten wir im Gefühl, wann jemand soweit war und wir sahen süß-sauer dabei zu. Nummer 10 nahm sogar Anlauf. Ich weiß nicht, wann die Vögel zurückkamen und uns Essen brachten. Eines trüben Tages ging ich in Gedanken umher. Nach einer Weile wurde ich gewahr, daß ich am Rand der Plattform entlangschlenderte. Es war ein gutes Grfühl, denn obwohl die Plattform unendlich lang (und etwa 20 Meter breit) war, fühlte man sich eingeengt. Ich würde auch bald springen. Eine Frau mit einem Korb kam auf mich zu, als ich unter einer Palme saß. Sie wolle nicht sterben, sagte sie. Ich sagte, sie solle beruhigt sein, das werde sie schon nicht. Ich klang nicht sehr überzeugend. Die Frau hatte Tränen in den Augen. Sie war sehr schön. Tage vergingen seit dieser Unterhaltung bis mein Tag kam. Die Luft war trüb, die Sonne nicht da, aber grell. Ich hatte Schweiß auf der Haut, ein schwacher Wind wehte. Ich fand den Abgrund sehr verführerisch, das unendliche Weite, das graue Tiefe. Ich sah auf die Wolken hinab und wurde ruhig. Als ich mich umdrehte, sah ich die Frau mit dem Korb mit süß-saurer Mine. Ich stand mit dem Rücken zum Abgrund und die Frau sah weg, als ich mich fallen ließ. Ich würde nicht sagen, daß ich an diesem Tag gestorben bin, aber meine Sicht der Dinge hat sich durchaus verändert. Ich bin niemals wütend und niemals traurig, was nicht heißen soll, daß ich fröhlich oder sogar glücklich bin. Ich sehe einfach vielmehr; und ich verstehe, was ich da sehe, nämlich überall dasselbe. von mue, im Winter 2000 (CC BY-NC-ND 4.0)