Frau Schniedel 

Frau Schniedel las gerne Zeitung, den Politikteil, denn der war dieser 
Tage voll von Rassenhass und Grüppchenbildung. »Machthaber Sisi 
isoliert die Islamisten«, titelte es hier und da, »der neue starke Mann 
in Ägypten spielt seine Macht rücksichtslos aus, um seine Gegner zu 
isolieren.« Seine Gegner waren übrigens die Muslimbrüder, und die waren 
schließlich auch Feinde Deutschlands und damit auch Feinde von Frau 
Schniedel, die es — wie wohl auch der Verfasser des Artikels — sehr 
genoss, ihren Hass auf den ganzen Islamismus freien Lauf zu lassen. 

Was die sich in Frankreich nun bloß denken, dachte Frau Schniedel und 
las die nächste Schlagzeile: »Stoiber macht es sich zu leicht, Baden-
Württemberg hat das Kopftuch aus den Schulen verbannt, Kreuze dürfen 
weiterhin gezeigt werden. Trotzdem will Justizministerin Werwigk-
Hertneck das Stück Stoff nicht nur politisch gedeutet wissen. Edmund 
Stoiber versuche damit, eine Diskussion nach der Gleichbehandlung der 
Religionen zu vermeiden.« 

In Frankreich denken sie sich bestimmt: »Diese Deutschen. Haben nichts 
dazugelernt seit dem Krieg«. Jeder ist doch fremdenfeindlich, auch die 
Franzosen, die kommen ja auch nicht klar mit ihren ganzen Afrikanern. 
Natürlich kann man sich leicht über unsere Türkenphobie auslassen, wenn 
man selber nicht so viele davon hat! So sprach Frau Schniedel mit sich 
selbst und vergaß dabei ganz die Kaffeekanne, die durch den gestrigen 
Rest schwarzen Kaffees bereits ein modriges Aroma zu verströmen begann. 

Das Thema ist zu vielschichtig, um es abschließend behandeln zu können, 
sinnierte Frau Schniedel, es gebe schließlich neben dem politischen 
Aspekt des Kopftuchs eben auch den religiösen, »diese Vieldeutigkeit 
macht die Debatte darüber so schwer.« Insgeheim indes hoffte sie 
inständig, die Debatte werde zugunsten der Kopftuchgegner ausfallen, 
»in Gelsenkirchen, Stuttgart oder München stellten sich die Probleme 
ganz anders.« 

»Ich habe die Sorge, dass wir zum Schluss wie der Zauberlehrling 
dastehen, der die tanzenden Besen nicht mehr in den Griff bekommt«, 
warnte de Maiziere. Mit dieser romantischen Vorstellung, von deutscher 
Kulturgeschichte durchtränkt, entließ der Artikel Frau Schniedel in die 
Nachsinnphase. 

Hach ja, der Zauberlehrling — nie gelesen, und trotzdem hoch geschätzt. 
Damals hatten die Menschen ganz andere Sorgen, und diese Sorgen, die 
zweifellos ganz existenzieller Art gewesen sein mussten, waren groß und 
kaum zu bewältigen, da war sich Frau Schniedel sicher. Aber es waren 
eben doch Sorgen, die nur einen begrenzten Spielraum für die mögliche 
Weiterentwicklung der Verhältnisse zuließen, man wusste wenigstens 
immer, was der morgige Tag bringen würde. Heutzutage ist alles anders. 
Denn jetzt haben wir die fremdländische Komponente in unser vertrautes, 
angestammtes Leben gelassen, dieses undurchschaubare Gemüt des 
Muselmans, der selbst nicht weiß, was er in der nächsten Minute wieder 
aushecken wird. 

Frau Schniedel dachte fester nach. Dieser Muselman. Er kommt hierher 
und hat die Frechheit, uns zu sagen, was unser Lebensgefühl zu sein 
hat. Er will uns sämtlicher Freuden berauben, und das nennt er dann ein 
gottgefälliges Leben. 
Böse Menschen haben keine Lieder, brummelte Frau Schniedel halb 
abschätzig, halb resigniert. 

»Nach Auffassung des sächsischen Justizministers Thomas de Maiziere 
wird sich Karlsruhe erneut mit dem Kopftuchstreit befassen müssen. Auch 
nach dem ersten Richterspruch aus Karlsruhe sei die juristische 
Auseinandersetzung um die Frage, ob muslimische Lehrerinnen an 
deutschen Schulen Kopftücher tragen dürfen, noch nicht vorbei, sagte 
der CDU-Politiker der Nachrichtenagentur AP in Dresden.« Daneben das 
Bild eines salutierenden Edmund Stoiber, in Tracht. Untertitel: »Tracht 
ja, Kopftuch nein« 

Das kann man doch gar nicht miteinander vergleichen, dachte Frau 
Schniedel erbost und spürte ihren Zorn in sich hochkochen. Der 
Zauberlehrling tat seine Wirkung. 

»Terroralarm: Geheimdienste befürchten Attacken gegen Atomkraftwerke. 
Nach der Terrorwarnung des Bundeskriminalamtes haben heute mehrere 
Bundesländer ihre Sicherheitsvorkehrungen erhöht. Neben Hamburg 
sprechen auch Hessen, Bayern und Rheinland-Pfalz von einer neuen Lage, 
die schärfere Maßnahmen erfordere. Amerikanische und deutsche 
Geheimdienstleute fürchten Attacken auf deutsche Atomkraftwerke.« 

Die Amerikaner also auch, dachte Frau Schniedel atemlos, dann muss es 
wirklich ernst sein. Diese Zeilen hatten Frau Schniedel nun endgültig 
den Abend verdorben, schließlich liebte sie ihren Feierabend, und sie 
fühlte sich rein wie im Gottesdienst, als sie die unerträgliche 
Bedrohung dieses heiligen Monuments abendländischer Kultur ausgiebig 
beklagte. 


mue, 1. Juni 2016 (CC BY-NC-ND)