Voltaire: Kandide oder der Optimismus

 10. Zehntes Kapitel.
Kandide, Kunegunde und die Alte kommen in einer gar schlimmen
Lage zu Cadix an, und schiffen sich ein.

Kunegunde (schluchzend.) Alle meine Crusaden und Diamanten sind fort! Wer
mus mir die gestohlen haben! Wovon wollen wir nun leben? Wo Inquisitoren
und Juden finden, die mir andre geben?

Die Alte. Was ich glaube, — aber Gott verzeihe mir die schwere Sünde,
wenn ich ihm zu viel thue — ich denke aber immer, ich denke, der
ehrwürdige Pater Graurok, der mit uns zu Badajos sein Nachtquartier
hatte, hat sie heissen mitgehn. Er kam zweimal zu uns in die Stube,
und war schon lang’ über alle Berge, eh’ wir an die Abreise dachten.

Kandide. Der wakre Panglos hat mir oft bewiesen, daß alle Güter
hienieden gemeinschaftlich sind, Hinz daran so gut Antheil hat als
Kunz. Vermöge dieser Grundsäze hätte uns jener Barfüssermönch
wenigstens so viel Geld lassen sollen, um unsre Reise bestreiten zu
können. Haben Sie denn gar nichts behalten, gnädige Barones?

Kunegunde. Keinen Maravedis!

Kandide. Was nun zu thun?

Die Alte. Ein Pferd verkaufen, da ist kein andrer Rat. Ich seze mich
hinter die gnädge Barones so gut es mit meinem halben Gat angeht,
und damit immer zu nach Cadix.

In eben dem Wirtshause befand sich ein Benediktinerprior, der kaufte
ihnen das Pferd um einen Pappenstiel ab. Kandide und die Alte nahmen
ihren Weg über Lucena, Chillas, Lebrixo nach Cadix. Hier ward eine
Flotte ausgerüstet, die Truppen mussten sich hier stellen, welche die
ehrwürdigen Paters des Jesuiterordens zu Paraguai zu Paaren treiben
sollten. Leztre hatten, gab man ihnen wenigstens Schuld, eine ihrer
Indischen Horden bei der Stadt St. Sakrament gegen die Könige von
Spanien und Portugall aufgewiegelt.

Kandide machte dem General dieser kleinen Armee die Bulgarischen
Kriegsexerzizien vor, und das so flink, so dreist, mit solchem
soldatischen Anstande, daß der General ihm augenbliklich eine
Kompagnie bei der Infanterie gab. Der neugebakne Herr Hauptmann nebst
Barones Kunegunden und der Alten schiften sich ein, nahmen noch zwei
Bedienten, und die beiden Andalusischen Pferde mit, die weiland dem
Herrn Grosinquisitor von Portugall gehört hatten.

Während der Überfahrt unterhielten sie sich beständig von der
Philosophie des armen Panglos. Wir kommen nun in eine andre Welt, sagte
Kandide, und unstreitig ist diese die beste. Denn man muß gestehn,
man hat wohl Ursach, über den physischen und moralischen Zustand unsrer
Welt ein wenig zu seufzen.

Kunegunde. Ich liebe Sie von ganzem Herzen Kandide, doch alles das,
was ich gesehn, was ich erlitten habe, hat mich ganz scheu und verzagt
gemacht; mir ahnet nichts guts. Lassen Sie Sich um’s Himmelswillen
nicht blessiren oder todt schiessen!

Kandide. Es wird alles gut gehn. Schon das Meer in dieser neuen Welt
ist besser als in unsrer Europäischen; ist weit ruhiger; die Winde
weit beständiger. Warlich, die neue Welt ist die beste unter allen
möglichen Welten.

Kunegunde. Das gebe Gott! nur wahren Sie sich, daß man Sie nicht blessirt
oder todt schiest, und wir beide unglüklich werden. Ich kann mich gar
nicht beruhigen, denn ich habe in unsrer Welt schon so gräsliches
Elend ausgestanden, daß kein Stral der Hofnung mehr in meine Seele
sich hineinstiehlt.

Die Alte. Was das für ein Gethue, für ein Geklage ist! Wären Sie an
meiner Stelle gewesen, Sie sollten auf einem gar andern Loche pfeifen. Ich
kann noch ein Liedchen von Unglüksfällen singen.

Kunegundens Mund zog sich ein wenig zum Lächeln; es kam ihr drollicht
vor, daß die alte Mutter behauptete, sie sei unglüklicher, wie
sie. Haben Euch, sagte sie, nicht zwei Bulgaren geschändet; habt Ihr
nicht zwei Degenstiche in den Leib bekommen; sind nicht zwei von Euren
Schlössern verwüstet worden; hat man nicht vor Euren Augen zwei
Väter und zwei Mütter ermordet; und habt Ihr nicht zwei von Euren
Liebhabern im Autodafe stäupen sehn: so seh’ ich nicht ab, wie Ihr
Euch unglüklicher nennen könnt, als ich. Erwägt noch überdem, daß
ich Barones bin, meine einundsiebzig Ahnen aufweisen kann, und daß ich
gleichwohl habe müssen aschenbrödeln.

Meine Geburt ist Ihnen unbekannt, gnädige Barones, antwortete die
Alte. Ich dürfte Ihnen nur mein Hinterkastell zeigen, Sie würden
gewis ganz andre Saiten aufziehn. Diese Rede erregte bei Kunegunden
und Kandiden eine ganz ausserordentliche Neugier, welche die Alte auf
folgende Art befriedigte.



 11. Elftes Kapitel. // Geschichte der Alten.