Kurd Laßwitz: Auf zwei Planeten

 23. Ismas Entschluß

Um dieselbe Zeit wurde Frau Isma Torm durch heftiges Läuten aus dem
Schlummer geweckt.

Man brachte ihr ein Telegramm. Mit klopfendem Herzen las sie:

„Hammerfest, den 9. September.

Brieftaube ‚Ballon Pol‘ brachte folgende Nachricht:

Frau Isma Torm. Friedau. Deutschland, 21. August, 2 U. 30 Min. nachm.
M.E.Z.

Ballon durch unbekannte Kraft in die Höhe gerissen. Ich verlor das
Bewußtsein. Erwachte, als der Ballon auf dichte Wolkendecke schnell
abstürzte. Korb gekentert. Ballon nur durch stärkste Erleichterung zu
retten. Grunthe und Saltner bewußtlos, nicht transportierbar. Ich
verließ den Ballon mit dem Fallschirm, konnte Brieftauben mitnehmen.
Ich fiel langsam durch Wolken, trieb vom Pol in unbekannter Richtung ab,
konnte mich auf Festland retten. Entdeckte Spuren von wandernden Eskimos
und fand ihr Lager. Ziehe mit ihnen nach Süden, habe noch zwei Tauben.
Hoffe auf glückliche Heimkehr. Sei unbesorgt. Ich bin unverletzt und
bei Kräften.  Torm.“

Sie klammerte sich an die letzten Worte. „Hoffe auf glückliche Heimkehr.
Sei unbesorgt. Ich bin unverletzt und bei Kräften.“ Aber wo? Wo?
Jenseits unzugänglicher Meere und Eiswüsten, kurz vor Beginn der ewigen
Nacht, angewiesen auf das Mitleid einiger armseliger Eskimos! Der Ballon
gescheitert — die gehofften, stolzen Resultate verloren! Wie konnte
er heimkehren — und wann?

Und sie — sie hatte ihn ermutigt, ihm zugeredet, als er darum sorgte,
sie allein zurückzulassen. War sie nicht mitschuldig an seinem Unglück?
Hatte sie nicht zu sehr dem Freund vertraut, der des Gelingens so
sicher schien? Eine furchtbare Angst erfaßte sie. Hätte sie ihn
nicht beschwören müssen, das gefährliche Unternehmen um ihretwillen
zu unterlassen? Sie hatte sich eingebildet, der großen Sache, der
Wissenschaft mutig das Opfer ihres häuslichen Glückes zu bringen, aber
nun kam es über sie wie eine schreckliche Anklage — hätte sie den Mut
auch gehabt, wenn nicht Ell sie gebeten hätte? Wenn sie nicht dem Freund
zuliebe, dem sie das eine Lebensglück versagt, nun zur Erreichung seines
innigsten Wunsches ein Opfer hätte bringen wollen? Und wenn das Opfer
angenommen war? Sie schauderte zusammen. Nein, nein, sie wollte nicht
mutlos sein. Das durfte sie sich ja sagen, sie hatte sich nie verhehlt,
daß sie jeden Augenblick auf das Schlimmste gefaßt sein mußte. Aber
was sie dann tun würde? Das hatte sie niemals sich zur vollen Klarheit
gebracht. Jetzt mußte es sein. Sie wollte handeln. Wenn Hilfe möglich
war — es gab von den Menschen nur einen, der hier helfen konnte. O,
er würde ihr helfen! Sie glaubte an ihn.

Eine Stunde später zog sie die Klingel an dem großen eisernen Gitter,
das den Vorgarten des Wohngebäudes neben der Sternwarte von der Straße
abschloß.

„Ist der Herr Doktor schon zu sprechen?“ fragte sie den öffnenden
Kastellan.

Der Alte nahm sein Käppchen ab und kratzte sich verlegen hinter dem Ohr.

„Ei, ei, die Frau Doktor sind es? Hm! Hm! Na, ich will gleich einmal
fragen. Kommen Sie nur inzwischen herein. Es ist freilich — Hm! —“

„Sagen Sie, ich müßte den Herrn Doktor sofort sprechen, es sind
wichtige Nachrichten angekommen.“

Der Alte schlurfte ins Haus.

Ell beriet mit Grunthe die Form, welche den ersten Mitteilungen zu geben
sei, als ihm Frau Torm gemeldet wurde.

Er sprang auf und warf die Feder weg.

„Führen Sie die gnädige Frau sogleich in die Bibliothek.“

„Es sind wichtige Nachrichten da, sagte die Frau Doktor.“ Mit diesen
Worten ging der Kastellan ab.

„Sie hat Nachrichten!“ rief Ell erbleichend. „Und sie kommt selbst,
um diese Zeit! Woher kann sie es wissen?“

Er stürzte hinaus. Vor der Tür des Bibliothekzimmers hielt er an. Er
mußte sich erst sammeln. Dann trat er ein, ruhig, gefaßt. Aber das
Herz schlug ihm. Sein Gesicht war bleich und übernächtig.

Isma stand mitten im Zimmer und stützte ihre Hand auf den großen Tisch,
der mit aufgeschlagenen Kartenwerken und Tabellen bedeckt war. Sie fand
keine Worte.

„Isma“, sagte er, „Sie haben — was wissen Sie?“ Sie brach in
Schluchzen aus. Er eilte an ihre Seite. Wieder lehnte sie an seiner
Schulter. Er führte sie an das Sofa.

„Fassen Sie sich, liebste Freundin, fassen Sie sich!“

„Ich weiß nicht, was ich tun soll“, sagte sie unter Tränen. Sie zog
die Depesche aus ihrer Tasche und reichte ihm das zerknitterte Papier.

Ell las.

Er atmete tief auf.

„Gott sei gedankt!“ rief er aus tiefstem Herzen.

Isma sprang auf und wich zurück. Ihr Blick fiel feindlich auf ihn. ihre
Augen wurden starr. Sie drohte zusammenzubrechen.

„Was ist Ihnen, Isma?“

„Ich — ich —“, sagte sie, die Hand auf das Herz pressend, „ich habe
wohl nicht recht verstanden — oder — oder — sagten Sie nicht —?“

„Gott sei Dank, sagte ich, denn Ihr Mann ist gerettet.“

„Gerettet?“

„Ja, hier steht es ja.“

„Gerettet?“

„Ihre Nachricht ist jünger als die meinige, ist von ihm selbst“, fuhr
Ell fort. „Ich aber empfing diese Nacht durch Grunthe die Nachricht,
daß der Ballon abgestürzt und Ihr Mann verschwunden sei. Ich glaubte
ihn tot und wußte nicht, wie ich Ihnen, Isma — aber was ist Ihnen?“

Isma ergriff seine Hände. „O, Ell, Ell, verzeihen Sie mir!“

Er sah sie erstaunt an.

„Sie halten ihn für gerettet?“ rief sie, indem ihr das Blut in die
Wangen stieg. „Im ewigen Eis, in der Polarnacht? Wie soll er gerettet
werden?“

„Da er glücklich aus dem Ballon auf die Erde gelangt ist und im Schutz
der Eskimos steht, so droht ihm unmittelbar keine Gefahr.“

„Aber der Winter?“

„Wo die Eskimos überwintern, wird es Ihrem Mann auch gelingen. Es ist
gewiß keine angenehme Aussicht, aber wie viele Forscher haben schon einen
Winter in den Schneehütten der Eskimos zugebracht. Und darauf war er,
mußten wir alle gefaßt sein, daß ein solcher Unfall eintrat. Nein,
Isma, liebste Freundin, ängstigen Sie sich nicht. Wir werden dafür
sorgen, daß im Frühjahr auf allen Seiten des Pols nach ihm gesucht wird.
Vielleicht erhalten wir noch eine Nachricht. Er hat ja noch Tauben.
Sehen Sie —“, er streichelte ihre Hand und versuchte zu lächeln,
„verzeihen Sie mir, aber die Depesche, die Ihnen nur Trauriges meldete,
für mich war sie eine Erlösung. Alles, was Grunthe und Saltner von Ihrem
Mann wußten, bestand darin, daß er aus dem Ballon verschwunden war, als
sie von ihrer Ohnmacht erwachten. Der Fallschirm wurde im Meer gefunden,
von Torm keine Spur. Sie können sich denken, Isma, was ich in Ihrer
Seele fühlte, wie mir zumute war, als ich Sie jetzt vor mir sah. Da
atmete ich auf, als ich Ihre Depesche las. Nach dem, was ich wußte,
ist es vielleicht die beste Nachricht, die sich überhaupt erhoffen
ließ. Ich brauche nicht zu sagen, wie sehr ich den Unfall Ihres Mannes
bedauere; Sie aber dürfen stolz sein. Er hat sich selbst geopfert und die
Gefährten dadurch gerettet. Alle Resultate der Expedition sind geborgen,
selbst meine kühnsten Hoffnungen erfüllt.“

Isma starrte in die Ferne. Das Schicksal Torms nahm noch alle ihre
Gedanken in Anspruch.

„Und ist Ihnen denn dies alles gleichgültig geworden?“ fragte
Ell. „Sie fragen nicht einmal, woher ich meine Nachricht habe?“

„Wie können wir uns des Erreichten freuen, und er, dem wir es verdanken,
hat nichts von alledem? Den langen Winter — ach, wohl noch ein Jahr. —
Ist es denn nicht möglich, noch jetzt, gleich, etwas für ihn zu tun?“

Ell sah sie schmerzlich enttäuscht an und schüttelte nur den Kopf.

Sie verstand seinen vorwurfsvollen Blick. Eine feine Röte überzog ihr
Gesicht, und sie schlug ihre großen, sanften Augen wie bittend zu ihm
auf. Sie sah entzückend aus. Ell wendete sich ab, er konnte den Anblick
nicht länger ertragen.

Isma legte ihre Hand auf seinen Arm.

„Verzeihen Sie mir, mein lieber Freund“, sagte sie herzlich. „Erzählen
Sie mir! Ich sehe ja selbst ein, daß ich mich in Geduld fassen muß. Aber
es hätte mich so glücklich gemacht, sogleich etwas tun zu können.“

Ell schwieg noch immer. Er stützte den Kopf in seine Hand.

„Ich hab Sie darum nicht weniger lieb“, sagte Isma einfach.

Beide sahen sich tief in die Augen.

Ell sprang auf und machte einige Schritte durch das Zimmer. Dann blieb
er vor Isma stehen.

„Ich dachte einen Augenblick — eine Möglichkeit, aber nein, es geht
nicht. Es geht nicht.“

Er setzte sich ihr gegenüber.

„Hören Sie zu“, sagte er. „Was ich Ihnen jetzt sage, wird Ihnen
unglaublich erscheinen. Aber die Beweise sollen Sie selbst sehen.
Grunthe ist hier. Und Saltner ist auf der Reise nach dem Mars. Oben
in meinem Garten liegt ein Luftschiff der Martier. Mein Oheim Ill, der
Bruder meines Vaters, hat Grunthe darin hierhergebracht. Die Fahrt nach
dem Pol dauert sechs Stunden —“

„Um Gottes willen, Ell, hören Sie auf!“ rief Isma zurückweichend, die
gefalteten Hände nach ihm ausstreckend. In ihren Augen malte sich Angst.
Sie fürchtete für seinen Verstand. War das seine fixe Idee, die jetzt
mit ihren Wahnvorstellungen zum Ausbruch kam?

Er stand auf und ging zur Tür. Isma blieb ratlos sitzen. Nur wenige
Augenblicke, dann sprang sie auf.

Grunthe trat in das Zimmer. Er machte seine steife Verbeugung.

Isma starrte auf ihn wie auf eine Erscheinung.

„Lesen Sie diese Depesche“, sagte Ell zu Grunthe. „Frau Torm hat sie
heute früh empfangen.“

Grunthe las, sah noch einmal nach dem Datum, und sagte dann: „Das ist
eine sehr günstige Nachricht, unter den einmal vorhandenen Umständen.“

„Und nun bitte, Grunthe“, rief Ell, „tun Sie mir den Gefallen und
geben Sie Frau Torm einen kurzen Bericht über Ihre Erlebnisse. Kommen
Sie, setzen wir uns.“

Grunthe sprach in seiner knappen, fast trockenen Weise. Da war nichts
übertrieben, keine Vermutungen, kein subjektives Urteil, alles klar
wie ein mathematischer Beweis.

Isma saß regungslos. Ihre weitgeöffneten Augen hingen an Ell. Es
überkam sie wie ein Gefühl der Ehrfurcht.

„Und nun ich hier bin“, schloß Grunthe, „darf ich keine Minute
versäumen, den Bericht fertigzustellen. Wir haben alle unsre Kräfte
anzustrengen, das zu beweisen, was uns niemand wird glauben wollen. Ich
darf daher wohl auf Entschuldigung rechnen, wenn ich mich jetzt wieder
zurückziehe. Würden Sie mir noch einen Augenblick schenken?“ setzte
er zu Ell gewendet hinzu.

Er verbeugte sich gegen Isma und wollte gehen.

Da sprang Isma auf und trat dicht vor Grunthe, der mit zusammengekniffenen
Lippen stehenblieb.

„Ist es wahr“, fragte sie, „das Luftschiff liegt noch draußen?“

„Gewiß.“

„Und in sechs Stunden kann man zum Nordpol gelangen?“

Grunthe nickte bestätigend.

„Ich bin heute früh selbst in einer Stunde nach Wien und wieder
zurückgefahren“, setzte Ell hinzu.

„Ich danke Ihnen“, sagte Isma zurücktretend.

„Entschuldigen Sie mich auf einen Augenblick — ich bin sogleich wieder
hier“, sagte Ell zu Isma, indem er mit Grunthe das Zimmer verließ.

Sie nickte schweigend. Ihre Gedanken waren bei dem Luftschiff. In sechs
Stunden konnte man am Nordpol sein — nur sechs Stunden! So lange
braucht der Schnellzug nach Berlin. Das ist eine Spazierfahrt. Sechs
Stunden nur trennten sie von Hugo. — — Wenn das Glück günstig war,
wenn das Schiff die richtige Bahn beschrieb, so mußte man ihn bemerken,
so konnte man ihn aufnehmen und zurückbringen — noch heute konnte er
in Friedau sein —

Ach, aber ihn scheiden die Wüsten des Eises, die unzugänglichen Meere,
die noch kein Forscher zu durchqueren vermochte — dort sitzt er in
der kläglichsten Schneehütte, Monat auf Monat, ohne Licht, ohne Tat
— in ewiger Nacht trauernd und sich sehnend nach der Heimat, umgeben
von den Gefahren des furchtbaren Winters. — — Und hier daheim, hier
reifen die Früchte seiner kühnen Fahrt, hier drängt sich von Stunde zu
Stunde neues, lebendiges Schaffen, hier vollzieht sich das Unerhörte,
noch nie Gewesene — von den Sternen steigen die Götter herab, um die
Menschen zu laden zu ihrem seligen Wandel — hier, in dieser Stadt,
in diesem Hause wird ein neues Zeitalter geboren, und er weiß nichts
davon, kann nicht teilnehmen an dem Großen, was die ganze Erde erfüllt,
an dem Höchsten, was erlebt wurde und was ihr Herz so erwartungsvoll
schlagen macht — und sie muß es allein erleben —

Und vielleicht nur sechs Stunden —

Allein — den ganzen Winter allein in solcher Zeit, wo Seele zu Seele
gehört — allein? Ja, wenn sie allein wäre! Aber der Freund? Wo
bleibt er? Er ist länger draußen aufgehalten, aber er wird kommen —
er wird kommen so wie heute, dann jeden Tag, der einzige Vertraute,
mit dem sie alles teilen muß, was das Herz bewegt — mit ihm wird
sie allein sein, der ihr so wert ist, so lieb, und nun vor ihr steht
in einem neuen, geheimnisvollen Licht, der Sohn einer höheren Welt,
zu dem sie aufblickt — —

Nein, nein! Sie will nicht allein sein, und nicht allein mit ihm —

Sie ringt die Hände und geht auf und ab im Zimmer. Sie blickt nach der
geschlossenen Tür und glaubt seine Stimme zu hören. Sie blickt nach
der Uhr — und der Gedanke läßt sie nicht los: Nur sechs Stunden! In
sechs Stunden kann alles entschieden sein —

Ja, wenn sie mitfahren könnte, durch die Lüfte reisen nach dem Reich des
Eises, wo er weilt — sie würde ihn finden, sie würde ihn ausspähen,
wo er sich auch bärge, im Boot von Seehundsfell, in der Hütte von Schnee
— bis in die Gletscherspalte würde ihr Auge dringen — sie schauerte
zusammen. Vielleicht schon lag er — sie mochte das Schreckliche nicht
denken. Diese furchtbare Ungewißheit — nein, das konnte, das wollte
sie nicht ertragen. Und die Fragen, die ewigen, und das Mitleid — und
das höhnische Zischeln, ob sie sich wohl tröstet — — oh!

Sie stampfte mit dem Fuß auf und preßte die Hände krampfhaft zusammen.
Dann stand sie still wie ein Bild aus Stein. Und nun wußte sie es. Sie
atmete tief auf. Die Starrheit löste sich. Ihr Entschluß war gefaßt.

Nur sechs Stunden!

Das Luftschiff zog sie mit magischer Gewalt an. Sie wollte fort, sie
wollte an den Pol, sie würde ihn finden, den Verlorenen, sie, Isma Torm.
Wenn es ein Unrecht war, daß sie um des Wunsches des Freundes willen den
Mann nicht zurückhielt, so mochte dies ihre Buße sein, und die seinige!

Sie setzte sich und überdachte alles noch einmal in voller Ruhe.

Es war das Richtige, es mußte so sein.

Isma erhob sich und schritt auf die Tür zu, als ihr Ell aus derselben
entgegentrat.

Er stutzte bei ihrem Anblick. Die Trauer und Angst aus ihren Zügen war
verschwunden. Sie stand aufgerichtet vor ihm. Aus ihren tiefblauen Augen
sprach jene Innigkeit des Gefühls, die ihn immer hingerissen hatte. Auf
ihren Lippen lag es wie ein leises Lächeln.

„Ell“, sagte sie — sie stockte einen Augenblick wie verlegen „bei
Ihrer Freundschaft, wenn Sie mich liebhaben —“

„Isma!“

„Wollen Sie mir eine Bitte erfüllen?“

„Was Sie wollen!“

„Sprechen Sie bei Ihrem Oheim für mich, daß er mich in seinem
Luftschiff mit nach dem Pol nimmt und mich wieder hierherbringt, wenn
wir Hugo gefunden haben — ja, ja — ich werde ihn finden, wenn ich
mit dem Luftschiff ihn suchen darf — o, weigern Sie sich nicht —“

Sie faßte seine Hände und sah ihn flehend an. Zwei Tränen traten in
ihre Augen.

„Und — kommen Sie selbst mit!“ setzte sie hinzu.

Ell fand nicht sogleich Worte. Das hatte er nicht erwartet.

„O Isma, Isma“, rief er endlich. „Was verlangen Sie? Diese Reise
ist nichts für Sie. Die Nume werden selbst suchen, sie suchen schon,
und was die nicht finden, werden auch Sie nicht finden.“

„Ich werde es. Was sind fremde Augen gegen die der Frau? Ich werde sehen,
wo andere nicht hinblicken. Es sind nur sechs Stunden — so nahe —,
und ich soll hier müßig sitzen — den Gedanken ertrage ich nicht —“

„Ich bitte Sie, Isma, bedenken Sie meine Lage. Jetzt darf ich, kann ich
nicht von hier fortgehen. Jetzt gilt es, die Menschheit auf den Besuch
der Martier vorzubereiten. Was ich seit Jahren erwartet, ich muß nun
die Konsequenzen ziehen —“

„Es handelt sich vielleicht nur um wenige Tage.“

„Die habe ich meinem Oheim zu andern Zwecken versprochen. Und dann muß
ich wahrscheinlich nach Berlin.“

„Dann bin ich also ganz allein“, sagte Isma leise.

„Nein, nein — ich komme bald wieder.“

Isma wandte sich schweigend ab. Dann kehrte sie plötzlich zurück und
sagte fast hart:

„Führen Sie mich zu Ihrem Oheim, ich will ihn bitten. Und wenn Sie
nicht fortkönnen, lassen Sie mich allein mitgehen. Lassen Sie mich
hingehen, Ell!“

Ell kämpfte mit sich. Mit düstern Blicken starrte er durchs Fenster.

„Wo ist das Schiff?“ fragte Isma. „Ich will die Nume bitten, sie
werden einer verlassenen Frau nicht abschlagen, was der einzige Freund
ihr nicht gewähren will.“

„Isma, seien Sie vernünftig!“

„Das Vernünftige ist die Pflicht. Und dies ist der einzige Weg, sie
zu erfüllen.“

„Und meine Pflicht ist die Versöhnung der Planeten. Dagegen muß das
Geschick des einzelnen zurücktreten.“

„Darum eben gehe ich allein.“

„Das werde ich nie zugeben.“

„Ich will“, sagte Isma finster. „Ich will zu meinem Mann.“

Ell stöhnte. Er sah, wie sie entschlossen der Tür zuschritt. Sie drehte
sich noch einmal um, mit tiefer Trauer im Antlitz.

„Bleiben Sie, Isma“, rief er. „Ich bringe Ihnen Hugo, wenn es in der
Macht der Menschen steht und der Nume!“

„Nehmen Sie mich mit!“

„Kommen Sie zu Ill. Alles hängt von seiner Entscheidung ab.“

Ell brachte Isma zu seinem Oheim. Es hätte ihr wenig genutzt,
ihre Sache bei Ill zu vertreten, wenn nicht Ell sie zu der seinigen
gemacht hätte.  Denn Ill verstand nicht deutsch, Ell mußte daher die
Verhandlungen führen. Ill, der Isma mit herzlichster Teilnahme begegnete,
versprach sofort, daß nach seiner Rückkehr mit Hilfe des Luftschiffes
die sorgfältigste Durchforschung des arktischen Gebietes vorgenommen
werden solle, so lange die Martier dazu noch Zeit hätten. Dazu wäre er
ohnehin entschlossen gewesen, und nur die Zurückführung Grunthes und die
Aufsuchung Ells hätten zuvor erledigt werden müssen. Übrigens würde
schon jetzt nach Torm gesucht, da noch ein kleineres Luftboot, freilich
zu weiteren Reisen nicht verwendbar, in Dienst gestellt werde. Er sähe
daher nicht ein, wozu es notwendig sei, daß Ell oder gar Isma zu diesem
Zweck ihm an den Pol folgen sollten. Ersterer wäre jetzt in Deutschland
nicht zu entbehren, um Grunthe in der Darstellung der Resultate der
Expedition zu unterstützen. Man würde ihn auch jedenfalls seitens der
Regierung zu Rate ziehen.

Ell gab dies gern zu; es war ja vollständig seine Ansicht. Er sagte,
daß er nur den innigsten Wunsch von Frau Torm vertrete. Isma brachte nun
selbst ihre Bitte vor, mit rührendem Ton, in Ills Gegenwart. Ell, der
jetzt erst hörte und im übrigen erriet, was Isma zur Reise antrieb,
fühlte seinen Widerstand gebrochen. Er unterstützte nunmehr ihre
Bitten und wollte sie unter keinen Umständen verlassen. Er stellte
daher Ill vor, daß sich seine Reise wohl mit seinen Pflichten gegen
die Martier vereinen lasse, da sie doch nicht länger als acht bis zehn
Tage dauern würde. Denn gleichviel, ob Torm gefunden werde oder nicht,
vor ihrer Abreise nach dem Mars würden ja die Martier ihn und Isma
zurückbringen.  In dieser Zeit aber sei er um so eher entbehrlich,
als sich die erste Aufregung über das Erscheinen der Martier erst
einigermaßen legen müsse, ehe es zu ernsthaften Entschlüssen der
Regierungen kommen könne. Bis dahin sei er wieder zu Hause; inzwischen
reiche Grunthe vollständig aus, die erforderliche Auskunft zu geben. Es
stehe also dabei eigentlich weiter nichts in Frage, als daß die Martier
sich der Mühe unterzögen, noch einmal eine Fahrt vom Pol nach Friedau
und zurück zu machen. Das aber sei doch in zwölf Stunden erledigt.

Ell führte dies, hin und wieder von seinem Oheim unterbrochen, in
eifriger Rede aus. Isma hörte dem Gespräch, von dem sie kein Wort
verstand, geduldig zu. Sie erschrak, wenn sie aus Ills Augen auf eine
ablehnende Antwort schließen zu müssen glaubte. Jetzt aber lächelte
Ill und sagte:

„Die Transportfrage, euch beide mitzunehmen und wieder herzubringen,
ist für uns kein Hindernis. Persönlich würde es mich sehr freuen,
dich bei mir zu haben, und sogar sachlich könnte es von Vorteil sein, da
Fälle denkbar sind, in denen wir unser Schiff verlassen müssen, um das
Land zu betreten; und dann würdest du mit den Eskimos, die wir mitnehmen
werden, mehr leisten können als wir. Ich wundere mich aber, warum du
für den Wunsch der Frau Torm so eifrig eintrittst, der eigentlich nur
einer Stimmung, man möchte fast sagen, einer Einbildung entspringt.“

„Sie hegt nun einmal den Wunsch“, erwiderte Ell etwas verlegen, „sie
hält die Reise für ihre Pflicht, und es ist der einzige Trost, den ich
ihr gegenwärtig geben kann, wenn ich ihren Wunsch zu erfüllen suche.“

Ill blickte seinem Neffen mit Herzlichkeit ins Auge. „Du liebst diese
Frau.“

Ell schwieg.

„Und du willst sie mitnehmen und begleiten, um ihr den Gatten
wiederzugeben?“

„Ja.“

„So machst du ihren Wunsch zu dem deinen?“

„Vollständig.“

„Ich möchte dir deine erste Bitte nicht abschlagen. Aber es ist noch ein
prinzipielles Bedenken. Zugegeben, deine Abwesenheit von hier für kurze
Zeit wäre allenfalls belanglos. Es könnte aber ein unglücklicher Zufall
eintreten, der uns verhindert, hierher zurückzukehren. Deine Abwesenheit
könnte sich auf den ganzen Winter ausdehnen. Dann übernehmen wir eine
furchtbare Verantwortung. Das Verständnis zwischen den Planeten steht
auf dem Spiel.“

„Ich weiß es. Es ist der Gedanke, der mich zuerst der Bitte von Frau
Torm widerstehen ließ, der mich in Konflikt mit mir selbst brachte. Aber
gerade, weil wir nicht allwissend sind, dürfen wir einen solchen Umstand
nicht in die Berechnung ziehen; er ist nur als Zufall zu behandeln; ich
kann morgen tot sein, auch wenn ich nicht aus meinem Zimmer gehe. Ich
habe mich nun einmal um Ismas willen entschlossen; was daraus wird, muß
ich mit meinem Gewissen abmachen. Daß ich nicht eigennützig handle,
weißt du.“

„Sonst hätte dein Wunsch für uns nicht existiert.“

„So aber, da es sich nur um Chancen des Gelingens oder Mißlingens
handelt, dürfen wir auch nicht vergessen, daß mit der größeren
Wahrscheinlichkeit unsre Reise das Verständnis zwischen den Planeten
fördern wird. Wenn es uns gelingt, Torm zu retten, wenn er durch die
Nume hierhergebracht wird, so haben wir das Zutrauen der Menschen und
ihren Glauben an uns in viel höherem Grad gewonnen, als sie selbst
durch mein Fernsein verloren werden könnten. Ich glaube also, daß wir
im Interesse der Planeten selbst wirken, wenn wir Torm suchen. Dieser
Grund ist mir allerdings erst jetzt eingefallen.“

Ill lächelte wieder. „Er würde auch gelten, wenn Frau Torm uns
nicht begleitete. Wir gewinnen aber durch sie eine Zeugin, die uns von
Nutzen sein kann. Doch gleichviel. So will ich denn einen Vorschlag
machen, das Äußerste, was ich zugeben kann. Ich beurlaube dich von
der Begleitung nach Rom, Paris und London. Dagegen kürze ich unsern
Aufenthalt in Europa ab und komme von Petersburg aus nicht erst hierher
zurück, sondern gehe sogleich von dort nach Norden. Wollt Ihr also mit,
so müßt ihr — wir haben heute, nach eurer Zeitrechnung —?“

„Den 9. September.“

„Nun gut. So haltet euch bereit, im Laufe des 11. Septembers mit uns
aufzubrechen.“

Ell sprang in die Höhe. Er dankte Ill und sagte freudig zu Isma: „Wir
dürfen mit. Aber wir müssen übermorgen reisefertig sein.“ Und mit
ernsterem Ausdruck setzte er hinzu: „Wollen Sie nicht lieber von Ihrem
Vorhaben abstehen? Sie können gewiß sein, daß die Nume alles tun
werden, um Hugo aufzufinden. Bleiben Sie hier, Isma!“

Isma stand einen Augenblick unschlüssig. Sie sah sich in der Kajüte
des Luftschiffes um, in welcher sie saßen.

Ill drückte auf einen Griff. Auf beiden Seiten der Kajüte öffnete
sich je eine Tür.

„Hier sind noch zwei Kabinen, je für einen Gast“, sagte er. „Sie
werden es etwas eng, aber sonst ganz bequem haben. Es versteht sich von
selbst, daß ihr meine Gäste seid“, setzte er zu Ell gewendet hinzu.

Isma verstand nicht seine Worte, aber seine Handbewegung. Sie streckte
Ill schüchtern ihre Hand entgegen, die er zwischen die seinigen nahm.

„Ich danke Ihnen“, sagte sie, „von ganzem Herzen.“ Dann wandte sie
sich zu Ell. Sie sah ihn mit einem Blick an, dem er nicht widerstehen
konnte.

„O zürnen Sie mir nicht, mein lieber, treuer Freund. Ich werde es
Ihnen nie vergessen, was Sie heute für mich taten. Ich kann nicht
hierbleiben, ich will hinaus. Und wenn Sie mitgehen, so danke ich ihnen,
denn unter diesen Fremden allein — es ist mir alles so beängstigend
— und keiner versteht mich — aber mit Ihnen — o Ell, ich weiß,
welches Opfer Sie mir bringen, und ich habe es nicht um Sie verdient.“

Mit Tränen in den Augen reichte sie ihm die Hände.

„Also übermorgen.“

„Noch eins“, sagte Ill, „eine Bedingung, die ich machen muß. Unsere
Nachforschungen werden am 12. September beginnen. Sie müssen aber am 20.
unter allen Umständen aufhören. Sind wir bis dahin nicht glücklich
gewesen, so müssen Sie es tragen. Am Morgen des 21. September setzt
Sie dieses Schiff wieder hier ab. Und so Gott will, schon früher und
— zu dreien.“

Ell übersetzte Isma die Worte.

„Gott sei uns gnädig!“ sagte sie leise.

„Und wie ist es mit der Reise nach den Hauptstädten?“ fragte Ell.

„Die mache ich morgen. Ich habe es mir nach deinen Karten und Angaben
schon berechnet. Die ganze Fahrt von hier nach Rom, über Paris
nach London und von dort zurück könnten wir in kaum fünf Stunden
zurücklegen.  Wir werden uns aber viel mehr Zeit nehmen. Nur hier
breche ich ungesehen auf, vor Sonnenaufgang. Denn da wir wieder hierher
zurückkommen, würde ich dir und uns die ganze Bevölkerung auf den
Hals ziehen und vielleicht ernstliche Schwierigkeiten haben, wenn man
von unserm Hiersein wüßte.  Dagegen werden wir unsere Fahrt, wenn wir
erst jenseits der Alpen sind, und dann in Frankreich und England, zum
Teil absichtlich langsam und möglichst vor aller Augen ausführen. Die
Menschen sollen sehen, was wir können, sie werden dann Grunthe eher
glauben. Auf irgendeinem unzugänglichen Alpengipfel werden wir einige
Stunden ungestört Mittagsruhe halten. Paris, London, Amsterdam, Brüssel
besuchen wir im Lauf des Nachmittags und Abends. Sobald es dunkel genug
ist, landen wir wieder hier. Und nun besorge deine Geschäfte und bereite
alles vor.“

Ell führte Isma aus dem Schiff. Sie zitterte an seinem Arm.

„Sie muten sich zuviel zu, liebste Freundin.“

„Nein, nein“, sagte sie. „Ich weiß, was ich kann. Es ist nur die
ungewohnte geringe Schwere in dem Schiff — aber ich werde mich daran
gewöhnen. Es ist schon wieder besser in der freien Luft.“

„Ill wird es gewiß arrangieren können, daß Sie nicht immer in der
Marsschwere zu sein brauchen.“

„Das ist ja alles gleichgültig. Nun will ich nur schnell nach Hause. Sie
können sich denken, daß ich viel zu tun habe“, sagte sie mit schwachem
Lächeln.

„Warten Sie, ich will einen Wagen holen lassen.“

„Das dauert zu lange. Können Sie mich nicht hier aus dem Parkpförtchen
lassen? Dann spare ich Weg.“

„Gewiß, ich habe den Schlüssel hier.“

Ell öffnete die kleine Tür in der Mauer. Sie führte auf einen
Promenadenweg, der von den Friedauern vielfach benutzt wurde, da er zu
einem beliebten Spazierort führte. Es war inzwischen neun Uhr geworden.

Isma zog den Schleier vor das Gesicht. Noch ein herzlicher Händedruck,
und sie schritt schnell den Weg nach der Stadt hinab.

Zwei Herren begegneten ihr, die sie scharf ansahen und sich dann etwas
zuflüsterten.

Ell war noch einen Augenblick stehen geblieben und hatte ihr
nachgeblickt. Als er in die Tür zurücktreten wollte, waren die beiden
Spaziergänger herangekommen.

„Ach, guten Morgen, Herr Doktor“, sagte der eine mit näselnder Stimme.
„Was macht der Nordpol?“

„Schon so früh interessanten Besuch gehabt? Wie?“ sagte der andere.
„Wohl sehr besorgt um den Herrn Gemahl?“

Ell sah den Sprecher von oben bis unten an und drehte ihm, ohne ein Wort
zu sagen, den Rücken. Vor dem Blick Ells wich er erschrocken zurück,
und aus Ärger über seine eigene Verlegenheit rief er Ell protzig nach:

„Na, na, man wird doch wohl fragen dürfen?“

Ell drehte sich um. „Nein, Herr von Schnabel, was einen nichts angeht,
wird man nicht fragen dürfen. Adieu.“

„Ich bitte doch, soll das vielleicht eine Zurechtweisung sein? Dann
möchte ich allerdings noch um eine Aufklärung bitten.“

„Tun Sie, was Sie wollen“, sagte Ell. „Ich habe keine Zeit.“ Er
schloß die Tür hinter sich und ging zu Grunthe zurück.


 24. Die Lichtdepesche